laut.de-Kritik
Zur Jazz-Foundation gesellen sich Hip Hop und R&B.
Review von Manuel BergerSeit er vor ungefähr zehn Jahren erste Tracks auf SoundCloud hochlud, probierte Alfa Mist sich in zahlreichen musikalischen Kontexten aus. Aufbauend auf seiner Grime-Jugend produzierte er Hip Hop- und R&B-Beats, veröffentlichte eine Soloklavier-EP, trat auf Jazz-Festivals auf, remixte für verschiedene Künstler, kollaborierte mit Ólafur Arnalds sowie einem Orchester und verantwortete mehrere Releases auf seinem eigenen Label Sekito. Fast jedes Jahr erscheint ein neues Release des Londoners – und hin und wieder vereint er auf größeren Albumprojekten viele Facetten seines Schaffens in einem Klangkörper. So wie jetzt bei "Variables".
Wer mit den empfehlenswerten Vorgängern "Antiphon", "Structuralism" und "Bring Backs" etwas anfangen konnte, wird auch "Variables" lieben. Die Wurzeln des Albums liegen im Jazz. Improvisation spielt eine zentrale Rolle, auch weil es zum übergreifenden Konzept gehört: Das Ankommen an bestimmten Stellen im Leben, ohne es konkret geplant zu haben. In vier ausufernden Instrumentals lassen er und seine Band sich also einfach treiben. Jede:r bringt Einflüsse mit, die groben Motive stehen, alles andere entsteht bei "Foreword", "The Gist", "Variables" und "BC" aus dem Moment heraus. Die Gruppenaufnahmen mit Kaya Thomas-Dyke am Bass, Jamie Leeming an der Gitarre, Jasmine Kayser am Schlagzeug, John Woodham an Flügelhorn und Trompete sowie Samuel Rapley an Klarinette und Saxophon sowie Alfa Mist selbst an Klavier und Keyboards passierten analog auf einer Tonbandmaschine. Erlaubt waren zwei Takes pro Stück, genaues Ziel der Recording-Reise unbekannt.
"Statt immer die Zukunft zu planen oder die Vergangenheit zu bereuen, ist es manchmal gut, innezuhalten, über die Gegenwart nachzudenken und auf deine bisherige Reise zu blicken. Egal ob sie gut oder schlecht war. Interessant ist doch: Hättest du nur eine Kleinigkeit anders gemacht, stündest du wahrscheinlich woanders als heute", sinniert der Komponist. "Darum geht es bei 'Variables': Die Variablen des Lebens." Wie er im Interview erklärt, steht jeder Song für eine eigene Richtung, auf der man hätte weiter aufbauen können. Gewissermaßen eine Sammlung von Fragmenten, die doch irgendwie zusammengehören.
Dazu gehört auch, dass Alfa Mist in einigen Stücken statt des improvisatorischen Ansatzes der erwähnten Instrumentals auf eher loop-basiertes Songwriting setzt. Die Jazz-Foundation bleibt dabei intakt, allerdings kommen stärker Elemente aus Hip Hop, R&B und Folk zum Tragen. Bei "4th Feb (Stay Awake)" und "Borderline" tritt Alfa Mist selbst ans Mikrofon und rappt mit ruhiger, tiefer Stimme zu lushen Beats. Wortgewandt reflektiert er dabei unter anderem seine Jugend in East London. "Aged Eyes" tragen melancholisch verträumte Vocallines von Bassistin Kaya Thomas-Dyke, über Akustikgitarre und Cello.
Mit "Genda (Go Away)" und "Apho" nimmt Alfa Mist Bezug auf die afrikanische Herkunft seiner Familie. In ersterem singt er mit seiner Nichte auf Luganda, für letzteres kollaborierte er mit dem südafrikanischen Singer/Songwriter Bongeziwe Mabandla, der für das Stück Lyrics auf Xhosa schrieb. Ein interessanter Kontrast entsteht zwischen dem friedlichen Gesang Mabandlas auf der einen und geschickt im Refrain eingesetzten Taktwechsel auf der anderen Seite, durch die der Song auch eine gewisse Rastlosigkeit ausstrahlt.
Die genaue Zielgruppe für "Variables" ist wegen der gebotenen Vielfalt schwer zu benennen. Dadurch, dass Alfa Mist die unterschiedlichen Garne immer wieder aufgreift und zu seinem eigenen musikalischen Stoff verwebt, könnte er Hörer:innen aus verschiedenen Bereichen ansprechen – Jazzheads ebenso wie sonst eher R&B oder roots-orientiertem Hip Hop zugeneigten Hörer:innen. Dabei hilft neben seinem Gespür für Harmonie, dass die Jazzparts nie verkopft, sondern gefühlsgetrieben ausfallen, und die eingängigeren Stücke mit allerlei verspielten Details aufwarten. Variabel eben.
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