5. März 2021

"Auf Napalm Death sprechen mich viele an"

Interview geführt von

Wie lösen Singer/Songwriter persönliche und berufliche Probleme? Richtig, sie nehmen sich eine Akustikgitarre, suchen sich eine abgelegene Hütte und schreiben ein Folk-Album. Und genau so machte das auch Anneke van Giersbergen.

Van Giersbergen kennt man vor allem aus dem Metal-Kosmos. Bekannt wurde sie als Sängerin von The Gathering, ist seit ihrem Ausstieg 2006 als Solokünstlerin und seit 2016 mit ihrer Band Vuur aktiv. Wie groß die stilistische Range ihrer Stimme ist, ließen nicht zuletzt Koops mit Devin Townsend und Napalm Death erahnen. Dass die Musikerin nun mit einem Singer/Songwriter-Album inklusive 1970er-Vibe daherkommt, dem ganz ausgezeichneten "The Darkest Skies Are The Brightest", ist aber durchaus eine Überraschung.

Wir trafen Frau von Giersbergen zum Gespräch via Zoom.

Thematisch dreht sich Ihr neues Album um turbulente Zeiten, persönlich wie geschäftlich. War es schwierig, das so detailliert zu thematisieren oder hatte es etwas Erleichterndes?

Beides. Die Zeit, die ich damals erlebte, war ziemlich schwer, das stimmt. Das waren so anderthalb, zwei Jahre, in denen ich in meinem Leben vor ganz verschiedenen Herausforderungen stand. In meinem Privatleben, in meiner Beziehung zu meinem Ehemann, aber auch in meiner Musik. Dinge, die ich mit meiner Band Vuur durchmachte. Wie das immer so ist im Leben, kam alles zusammen. Als ich mich dazu entschied, darüber zu schreiben, gab mir das viel Klarheit. Ich wollte eigentlich ein neues Vuur-Album schreiben, aber alles, was dabei rauskam war irgendwie soft, melancholisch, ganz, ganz anders als das, was ich für ein Metal-Album plante. Dann kam der Punkt an dem ich sagte: Ich muss das jetzt alles stoppen, mich zurückziehen und einen klaren Kopf kriegen. Ich begann, darüber zu schreiben – und dann wurde es logischer. Ich fand einen Fokus.

Finden Sie es leicht, mitten im Auge des Sturms analysierend zu schreiben? Oder brauchen Sie normalerweise die Distanz, die Vogelperspektive?

Die Vogelperspektive, darin bin ich nicht gut. Ich bin meistens extrem auf irgendwelche Dinge fokussiert. Das können schöne Dinge sein, aber eben auch Chaos oder Tumult. Wenn man fähig ist, die Dinge aus der Vogelperspektive zu betrachten, ist das definitiv etwas Tolles. Aber ich bin nicht gut darin, den Überblick zu bewahren. Ich muss mich auf einzelne Dinge konzentrieren und versuchen, sie zu lösen.

Auf dem Album gibt es sehr dramatische Momente. Sie singen etwa "Survive, this is serious". Aber es gibt auch sonnige, gerade gegen Ende hin optimistische Stellen. Was war denn die ursprüngliche Richtung, die Sie mit diesem Album gehen wollten

Ich wollte einfach über das schreiben, was ich gerade fühlte. Es gab Momente, in denen ich nicht wusste, was vor sich ging, Momente, in denen ich traurig war, zweifelte. Diese Momente hört man in den Balladen, den Lieblingsliedern. Aber ich versuche immer die Balance zu finden, auch innerhalb Songs. Ich dachte mir: Bei all diesem Aufruhr, versuch die Dinge simpel zu halten. Also schrieb ich genau darüber einen Song, der beim Verarbeiten helfen soll. Manchmal muss man die Dinge einfach halten. Ich meine, die Welt brennt, ich muss versuchen, die Dinge unter Kontrolle zu behalten. Und es gibt Momente, in denen ich einfach nur einen coolen Song schreiben wollte, eine kleine Geschichte. Es muss eine Balance zwischen der Dunkelheit und dem Licht geben.

Hat das Schreiben des Albums auch ganz pragmatisch dabei geholfen, zu neuen Erkenntnissen über Ihre Situation zu gelangen?

Ja, absolut. Manchmal schreibt man einen Text und versteht gar nicht, was man da schreibt. Und nach einer Woche oder so denkt man sich: Ah, das habe ich damit gemeint. Ich denke, Songs kommen von einem höheren Ort und man selbst ist nur das Sprachrohr. Ich möchte mich jetzt auf keinen Fall mit Einstein vergleichen, aber er sagte einmal, dass wenn man seinen Geist befreit und an gar nichts denkt, kommen die richtigen Ideen zu einem. Wenn man aber sich den Kopf darüber zerbricht, über was man schreiben will, hat man nicht die Freiheit, etwas zu schaffen. Ich versuche, meinen Geist und Kopf freizuhalten und Dinge zuzulassen. Manche Dinge kommen in vier Millisekunden auf einen zu und man denkt: 'Oh, ich wusste gar nicht, dass sowas in mir steckt'. 

So als ob das lyrische Ich oder die Erzählerstimme des Songs schon ein ganzes Stück weiter wäre, als man es selbst ist.

Ganz genau. Man muss sich davon führen lassen.

Sie haben das Album in Isolation geschrieben: Sie und Ihre Akustikgitarre in einer Hütte auf dem Land.

Ja. Als die Dinge kompliziert wurden, bin ich einfach abgehauen. Ich fuhr in ein winziges Haus in die Wälder. Ich fuhr immer wieder mal für eine Woche hin, sperrte mich ein und schrieb. Ich aß nicht viel, ich schlief nicht viel – aber ich schrieb und nahm auf. Das half mir dabei, den Fokus zu bewahren. Es ist anders als bei Metal-Alben. Bei Metal-Alben habe ich Ideen, aber ich bin keine Metal-Gitarristin, ich kann keine Riffs schreiben, da brauche ich einen Gitarristen oder einen Produzenten. Eben einen Co-Autor, der schon früh dabei ist. Aber für dieses Projekt schrieb ich 20 Songs und dann erst holte ich mir Leute ins Boot, mit denen ich diese fertigstellte. Die ersten zehn Songs ließ ich überhaupt niemanden hören. Ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht, ob sie gut sind, ob die Plattenfirma oder die Fans das mögen würden. Ich war überrascht, was dabei rauskam. Es ist schließlich ganz anders als das, was ich sonst mache. Und dann begann ich zu zweifeln. Ich zeigte die Songs Rob, meinem Mann, und meinem Produzenten Gijs Coolen. Sie meinten, dass sie toll wären und dass ich unbedingt weitermachen solle. Ich schrieb 20 Songs, elf davon landeten schließlich auf dem Album.

Also war es zu Beginn erst mal eine Platte nur für Sie selbst.

Ja, und das ist beängstigend. Einerseits nimmst du die Dinge in deine eigene Hand. Andererseits veröffentlichst du ein extrem persönliches Album und im schlimmsten Fall gefällt es keinem. Irgendwann hat man diese Phase, in der man denkt: 'Oh nein, das wird nicht gut ausgehen'. Aber man kämpft sich durch und macht weiter.

"Ich wollte es ganz pur halten"

Weil Sie gerade den Unterschied Ihrer Arbeitsweise bei Metal-Songs ansprachen: Jetzt mal abgesehen von den Gitarrenparts, ist Ihr kreativer Zugang anders, wenn Sie einen Folk-Song schreiben, falls ich das jetzt mal so nennen darf?

Ich denke, es kommt darauf an, was man schreibt. Man kann ja auch einen Metal-Song über die Liebe schreiben. Aber weil die Musik heavier ist, schreibt man mit mehr nach außen gehender Energie. Bei einem Folksong schließt du die Augen und singst. Bei einem Metal-Song ist das viel mehr nach außen, viel energetischer. Das gehe ich definitiv anders an.

Das Album hat streckenweise einen 1970s-Folk-Vibe, ich weiß nicht, ob Sie mir da zustimmen. Wer hat Sie als Singer/Songwriterin beeinflusst?

Ich war selbst überrascht, dass sowas aus mir kam. Diese groovy Elemente, die ganze Atmosphäre. Und ja, ich gebe ihnen da recht. Ich habe viel Fleetwood Mac gehört, 70s-Folk, Bob Dylan, Dolly Parton. Schon mein ganzes Leben lang höre ich das, aber erst jetzt kamen diese Dinge ans Tageslicht.

Sind Sie in Phasen, in denen Sie an Musik schreiben, aufnahmefähig für andere Musik?

Ja, durchaus. Ich höre zwar nicht den ganzen Tag, aber vor allem beim Spazieren, beim Autofahren. Wenn ich länger als eine halbe Stunde fahren muss, lege ich Metal und Prog auf, etwas, das mich wach hält und mir Energie gibt. Ich habe in meinem Studio aber auch einen Ort, an dem ich mich gerne hinlege, die Augen schließe und mir Dolly Parton und The Beatles anhöre.

Das Album hat eine schöne Instrumentierung, eine sehr dichte Atmosphäre.

Ich habe Gijs vor den Aufnahmen gesagt, wir sollen diesmal nur akustische Instrumente verwenden. Wir haben an manchen Stellen geschummelt und E-Gitarren eingesetzt, aber das meiste auf dem Album sind akustische Instrumente. Auch der Gesang klingt akustisch, hat keine Effekte drauf. Wenn man Synthesizer nutzt, ist es leicht, eine Atmosphäre mit Pads zu schaffen. Ich wollte das diesmal nicht – ich wollte es ganz pur halten.

Wie läuft bei Ihnen denn der Prozess des Vocal Recordings? Manche Sänger*innen nehmen ihre Gesangsspuren am liebsten ganz alleine auf – ohne Recording Engineer, Produzenten und andere Leute im Studio. Ich habe mal gelesen, dass etwa Chris Cornell beim Vocal Recording alles gerne alleine gemacht haben soll.

Ich mag es durchaus, mit anderen zu arbeiten. Bei den Vocals ist es meistens schon klar, was ich mache. Gijs gibt mir hier und dort kleine Anmerkungen. Aber ich habe ihm schon gesagt: Wenn wir das nächste Mal ein so intimes Album machen, mache ich es auch Chris-Cornell-Style. Ich hab die Demos ja alleine aufgenommen, und das waren echt intime Versionen. Vielleicht mache ich es beim nächsten Mal ja so: Ich arbeite die Songs mit meinem Produzenten aus, aber nehme sie dann alleine bei mir auf.

Welche Rolle spielt bei Ihnen der Produzent im Idealfall?

Idealerweise – und so ist das mit Gijs – versteht der Produzent, wo ich hin möchte, und er hilft mir dabei. Ich erkläre, was mir wichtig ist, und er sorgt dafür, dass es passiert. Wo wir wieder bei der Vogelperspektive sind. Manche Produzenten denken sich aber: 'Wenn wir den Song so oder so produzieren, könnten wir es ins Radio schaffen und einen Hit landen, und dann wäre ich ein Hit-Produzent'. Ich meine, das ist normal, jeder möchte es schaffen – aber man kann so den Fokus darauf verlieren, was der Song oder die Künstlerin/der Künstler will. Mir gehts nicht um Hits oder Radio-Airplay, ich bin eine Alternative-Künstlerin, mir ist es einfach nur wichtig, ehrliche Musik zu machen. Gijs weiß genau, was ich will – und er denkt an die Songs und an mich. Das klappte perfekt. Es war das erste Mal, dass ich einen Produzenten hatte, der kein Ego in die Sache rein brachte.

Das impliziert, dass Sie da auch andere Produzenten kennen.

Ja, schon. Manche Alben wurden gut, aber anders, als ich es wollte. Ich muss dem Produzenten vertrauen. Ich kann meine Alben nicht selbst produzieren, ich bin nicht Prince. Ich brauche jemanden, der besser Gitarre spielt oder manche Dinge besser kann. Bei manchen Produzenten wars so, dass sie dann das Ruder übernommen haben. Es ist dann auch gut geworden, aber eben ganz anders, als ich dachte. Ich sage aber nicht, dass das etwas schlechtes ist.

Fällt es Ihnen schwer, Ihre eigene Musik zu hören, wenn sie veröffentlicht ist?

Es gibt am Ende immer Dinge, die man ändern möchte. Aber man muss damit seinen Frieden schließen. Beim nächsten Album kann man Dinge besser machen. Es ist eine Momentaufnahme, und man muss sie ziehen lassen. Ich lebe im Frieden damit, ich kann mir alte Sachen anhören und sagen: 'Das ist gut geschrieben, gut aufgenommen. Und beim nächsten Mal mache ich Sachen anders'. Aber ich kann auch nicht sagen: 'Oh, das war aber perfekt'. Wer das tut, lügt sich selbst an oder ist nicht kreativ. Ich finde es gut, dass man immer Dinge besser machen will. Aber das kann ich ja auch dann tun, wenn ich die Songs live spiele – dann bekommen sie ein zweites Leben, eine neue Chance.

"Bruce Dickinson und Mike Patton sind großartige Sänger"

Hören Sie sich Ihre eigene Musik an?

Nur wenn es einen Grund gibt. Oder wenn ich in einer Bar bin und meine eigene Songs über die Boxen höre. Meist bin ich dann sogar ziemlich zufrieden und denke mir: 'Hey, das ist ein ziemlich guter Song'. Aber ich würde niemals auf Spotify gehen und mir meine eigene Songs anhören.

Welche Art von Sängerin wollten Sie als Kind werden? Was für ein Genre hätten Sie sich damals so vorgestellt?

Als ich echt jung war, hörte ich Madonna, Michael Jackson, Diana Ross – all diese Top-40-Künstlern mit ihren Riesenhits. Ich sah sie immer eher als Performer denn Songwriter, mal abgesehen von Prince, der sowieso alles selbst machte. Ich mochte die Performance-Seite. Ich wollte auf der Bühne stehen. Das ist für mich immer noch das tollste. Und das war mein Traum.

Dann kamen zunächst Jazz und Klassik, Metal erst später.

Ich habe begonnen, Gesangstunden zu nehmen, als ich 14 war. Da standen Klassik, Jazz und Musicals am Programm. Eben Dinge, die sehr technisch sind. Als ich 16 war, entdeckte ich Metal – und zwar Metal mit großartigen Sängern wie Bruce Dickinson oder Mike Patton. Da wusste ich: Genau dort gehöre ich hin. Dort fühle ich mich zuhause.

Es ist ja auch eine ziemlich bemerkenswerte Karriere-Bandbreite, ein Album wie "The Darkest Skies Are The Brightest" zu machen und andererseits als Gast bei Napalm Death zu hören zu sein.

(lacht) Ja, das ist doch toll, nicht? Auf Napalm Death sprechen mich viele an, weil es ja so anders ist zu dem, was ich zum Beispiel auf dem neuen Album mache. Aber eigentlich ist das alles eins. Es geht um Ideen, ums Kreativ sein. Und es ist so cool, dass sie mich gefragt haben.

Die Zusammenarbeit mit Devin Townsend wollen wir hier auch nicht unerwähnt lassen.

Devin bringt alle diese Elemente in seiner Musik unter. Er machte diese heavy Musik mit diesen wunderschönen, fast schon romantischen Melodien. Devin ist einer dieser Künstler: Was ich in meiner ganzen Karriere unterbringe, packt er in einen einzigen Song.

Weiterlesen

Noch keine Kommentare