laut.de-Kritik
Die Vollblutmusikerin gibt sich nackt und verletzlich.
Review von Michael SchuhAnnie Lennox nackt. Eine Vorstellung, die auch im 22. Karrierejahr der Engländerin noch zahlreiche Männer um den Verstand bringt. Doch auf dem Cover ihres dritten Soloalbums "Bare" ("Nackt") posiert Lennox gänzlich unsexy, im wahrsten Sinne ungeschminkt: Eine Art Sand-Peeling überzieht ihre nackte Haut und soll Reinheit, Verletzlichkeit und Ehrlichkeit symbolisieren. Werte, die sich in den "sehr persönlichen und emotionalen" neuen Songs der 48-Jährigen widerspiegeln.
Ein mutiges Foto, das nebenbei eine ganz andere Form von Exhibitionismus predigt als etwa die Bilderstrecken einer beinfreien Jennifer Lopez. Annie will uns sagen: Seht her, mein neues Image ist, keines zu haben. Die an das Eurythmics-Frühwerk "Touch" angelehnte Cover-Pose bleibt denn auch die einzige Referenz an ihre alte Band, "Bare" ist zu hundert Prozent Annie Lennox und knüpft nahtlos an "Diva" und "Medusa" an.
Der Opener "A Thousand Beautiful Things" führt eine nachdenkliche Lennox ein, die sich im Laufe des Albums selbsttherapeutisch an den negativen Seiten des Lebens abarbeitet, zu denen bei ihr auch das Ende einer Beziehung gehört. Auf der Single "Pavement Cracks" zeigt sie sich von gewohnt eingängiger Seite, das siebenminütige "The Hurting Time" klingt ein wenig nach Van Morrison-Folk mit elektronischen Mitteln. Wobei das Saxophon-Solo gegen Ende wirklich nicht aus dem Synthesizer hätte kommen müssen. Klingt ziemlich unnatürlich, Annie.
Ganz im Gegensatz zu Madames Vocal-Performance, die mal wieder herausragend ist und auch schwächere Songs wie das sachte rockende "Loneliness" vor dem Absturz bewahrt. Sonst ist am Songwriting - wie zu erwarten - wenig auszusetzen: Annie Lennox ist Vollblutmusikerin, deren Songs man obendrein sofort erkennt, selbst wenn sie heute meist ohne opulente Orchestrierung auskommen. Neben der Single ist das kristallklare Pop-Juwel "Honestly" einer dieser unwiderstehlichen Lennox-Hits. "Wonderful" hat gehörig Soul und fegt mit dem Elan einer jungen Alicia Keys in einen furiosen Piano-Refrain. Die Freunde der sanften Annie kommen in "The Saddest Song I've Got" und "Oh God (Prayer)" auf ihre Kosten.
Dass ein Duett mit Rock DJ Robbie Williams nicht nur im Bereich des Möglichen liegt, sondern auch dessen Ex-Partnerin Kylie Minogue aus dem Stand zurück nach Australien beamen würde, ist die Erkenntnis, die Annies einziger Dance-Song "Bitter Pill" vermittelt. Offen bleibt nach dem Hören von "Bare" eigentlich nur die Frage, warum Lennox ausgerechnet den Management-Künsten von Simon Fuller vetraut. Der S Club 7-Erfinder und Vater sämtlicher TV-Superstars will nämlich so gar nicht zu ihrem neuen Credo der Natürlichkeit passen.
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