laut.de-Kritik
Mit Pfeil und Bogen in den Moshpit.
Review von Kai ButterweckAls ich im August 1988 meine erste längere Konzertreise antrat, konnte ich bereits drei Tage vor der Abreise nicht mehr richtig schlafen. Ich war aufgeregt und voller Vorfreude. Es ging von Berlin nach Schweinfurt, auf die ehrwürdige Mainwiesen, dort, wo sich auf dem Monsters Of Rock Festival die Superstars der Metal- und Hardrock-Szene die Klinke in die Hand geben sollten. Als es dann am Abfahrtstag darum ging, eine musikalische Reisebegleitung zusammenzustellen, musste ich nicht lange suchen.
Ganze drei Kassetten wanderten neben meinem Walkman und einem guten Dutzend Batterien in meinen Rucksack. Zum einen entschied ich mich für das einzige Original-Tape, das ich zu dieser Zeit mein eigen nannte, nämlich "Animalize" von Kiss - die anderen beiden Kassetten hatte ich selbst aufgenommen. Sie waren gesplittet. Während die B-Seiten jeweils mit einem Mix aus Metal- und Hardrock-Songs vollgestopft waren, präsentierten sich auf den A-Seiten zwei komplette Alben: "The New Order" von Testament und "Among The Living" von Anthrax. Vor allem Letzteres erwies sich in den kommenden zwei Tagen als die perfekte Wahl, um zwischen Muffensausen-Gefühlen und Vorfreude-Schwitzattacken für einen halbwegs ruhigen Puls zu sorgen.
Anthrax hatten mich schon zwei Jahre zuvor mit ihrem Album "Spreading The Disease" begeistert und sich praktisch über Nacht eine ansehnliche Poster-Ecke bei mir daheim erkämpft. Ein Jahr später musste sogar mein Gene-Simmons-Starschnitt dran glauben. Statt dem blutbesudelten Zungenakrobaten prangte nun ein übergroßes Abbild des "Among The Living"-Covers an meiner Wand.
Auch heute noch zählt die insgesamt fünf Songs umfassende A-Seite dieses Albums für mich zu den besten Halbzeiten, die eine Thrash-Combo je abgeliefert hat. Nie wieder schafften es die Herren Belladonna, Ian, Spitz, Bello und Benante, eine derart markante, energiegeladene und zielgerichtete Thrash-Punktlandung hinzulegen wie mit diesem Album. Nicht umsonst stehen Songs wie der genreumfassende Titeltrack, die Judge-Dredd-Hymne "I Am The Law", oder die musikgewordene Speerspitze für Extrem-Nackensportler namens "Caught In A Mosh" auch fast dreißig Jahre später noch auf der Playliste eines jeden halbwegs kompetenten Hartholz-DJs auf dieser Welt. Dazu noch Thrash-Metal in Reinkultur ("Efilnikufesin (N.F.L.)", "A Skeleton In The Closet"): Metal-Herz, was willst du mehr?
Doch nicht nur die ersten knapp dreißig "Among The Living"- Minuten verdienen sich mit einer brettharten Melange aus Speed-, Thrash- und Heavy Metal einen dicken Eintrag in die Musik-Geschichtsbücher; auch die zweite Hälfte hat mit dynamischen All-In-One-Gassenhauern wie dem Pfeil-und-Bogen-Bulldozer "Indians", dem Harmonie-Eckpfeiler "One World" sowie der kompositorischen Sternstunde "A.D.I./Horror Of It All" in punkto Energie und Dynamik weitaus mehr zu bieten als die meisten Trittbrettfahrer-Veröffentlichungen der damaligen Konkurrenz zusammen.
Alleine schon die makellosen Riff-Strukturen, die während der ersten drei "A.D.I./Horror Of It All"-Minuten dafür Sorge tragen, dass einem das Fehlen eines Joey Belladonna in Hochform erst nach dem dritten Durchlauf auffällt, lassen mich auch heute noch zielgerichtet ins CD-Regal greifen, wenn mich mal wieder der Thrash-Heißhunger packt.
Mit ihrem dritten Studioalbum schufen sich Anthrax im Jahr 1987 die perfekte Sound-Nische zwischen ausgeklügeltem Bombast à la "Master Of Puppets" und muskulösem Stiernackentreiben im Stile von Testaments "The Legacy". Auch wenn meine Lifetime-Helden Kiss und die Mannen um Chuck Billy in Schweinfurt alles gaben und nicht nur einen schmalbrüstigen Langhaar-Teenie aus Berlin aus den Socken pusteten, so lief auf der Rückfahrt in die Hauptstadt nur noch eine Kassette auf Rotation, nämlich "Among The Living" – und das, obwohl Scott Ian und Co in Schweinfurt mit "Efilnikufesin (N.F.L.)" gerade mal einen einzigen Song von eben jenem Album vom Stapel ließen.
Diese fünf Minuten reichten aber aus, um mich für eine nicht enden wollende Rückfahrt zwischen imaginären Gesetzeshütern und Fäuste ballenden Indianern zu entscheiden. Eigentlich hasse ich lange Autofahrten. Diese Tour hingegen werde ich auf ewig in wohliger Erinnerung behalten.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
3 Kommentare
Gutes Review! Ich mag die auch aber finde die Spreading the Desease vielleicht noch einen Tick besser. Heute kann ich mit Anthrax weniger anfangen, wobei ich mir aber gern die alten Sachen gebe. AtL gehört auch dazu.
das gibt mir leider nicht viel mehr als kiss.
Ein Grundpfeiler meines bis heute andauernden Thrash Faibles.
Damals als junger Teenie von einem Klassenkameraden, auf einer gelben Musikkassette aufgenommen, erhalten.
Viele viele Jahre später musste ich mir die CD noch zulegen.
Viel meilensteiniger gehts für mich nicht!