laut.de-Kritik
Sucht erzeugender Mix aus Power, Melodien und Speed.
Review von Stefan JohannesbergIn Städten mit Häfen haben die Menschen noch Träume. Dunkle Träume. "The dreams and the visions / The reality and the light / Within the soul of the city / May be whatever you wish it to be / In the city where the statues they scream / For their truth to be real". 1991 formieren sich in der schwedischen Ostseestadt Göteborg die Todesmetall-Truppen und suchen ihr satanisches Heil - im Gegensatz zu Stockholmer Kollegen wie Entombed - in der etwas melodischeren Variante des Death Metal. Neben den ewig unbekannten Ceremonial Oath (mit Anders Iwers, dem unfassbaren Multiinstrumentalisten von In Flames) dominieren vor allem At The Gates - zuerst als Grotesque unterwegs - die Szene. Deren oben zitierter Song "City Of Screaming Statues" landet 1992 auf dem grandiosen Debüt "The Red In the Sky Is Yours", das bereits ein Jahr vor den Meilensteinen "Heartwork" (Carcass) und "The Somberlain" (Dissection) zum ersten Blueprint des jungfräulichen Subgenres avanciert.
Alleine der Track "Through The Gardens Of Grief" nimmt wie Dissections "Black Horizons" das komplette Melo-Death-Genre voraus. Death Metal paart sich mit Iron Maiden-Einflüssen und gebärt mitreißende Gitarrenriffs und unzählige Tempiwechsel, während die markzerfetzenden, existentiellen Schreie von Shouter Thomas Lindberg, die eher an emotionale Hardcore-Spitterei erinnern als an die bekannten, tiefen Death-Growls, über allem thronen wie der Teufel persönlich. "Die frühe Göteborger Szene war brutal. Die melodischeren Sachen kamen erst später auf und ich glaube wir, At The Gates, waren schuld daran", gibt Lindberg unumwunden zu. Leider saugt der papierdünne Midi-Sound des unfähigen Produzenten Hans Hall das At The Gates-Debüt auf den saustoffarmen Boden der Ostsee. Das Kerrang-Magazin schrieb damals: "Die Gitarren klingen wie saure Gurken...".
Stop, richtige Review, falsches Album. Wer an At The Gates denkt, denkt eben nicht an die erste Scheibe, er denkt an "Slaughter Of The Soul". Jenes vierte Werk, das 1995 parallel zum anderen Genre-Klassiker "The Gallery" der Kumpels Dark Tranquillity erscheint. "Slaughter" wird daher – wegen der Göteborger Szene und der Historie der Gruppe - fälschlicherweise auf die genreprägende Kraft im Melodic Death-Metal und Metalcore reduziert, in Wahrheit ist es viel größer. "Slaughter Of The Soul" steht direkt neben Slayers "Reign In Blood" oder Exodus' "Bonded By Blood", malträtiert es doch mit straighten Death-Thrash-Granaten die Eingeweide bis aufs Blut. Keine Keyboards, kein Klargesang, kein In-Flames-Gitarrenpathos und keine acht-Minuten-Songs schwächen die radikalen, ich-bezogenen Freiheits-Lyrics von Lindberg oder zerstören den süchtig machenden Mix aus Power, Melodien und Speed der Gebrüder Björler.
Befreit von den frickeligen Fesseln des zwei Jahre zuvor ausgestiegenen Gründungsgitarristen Alf Svensson, die die ersten beiden Alben so hörenswert machten, fegen At The Gates durch die Boxen wie die Dothraki über das offene Feld. Militärisch geführt vom Schlagzeuger Adrian Erlandsson, der in jeder Sekunde jede Double Bass, jeden Midtempo-Groove präzise und perfekt setzt. Speed-Part folgt auf Mosh-Break folgt auf Speed-Part, alles wirkt wie eine One-Take-Schlachtsequenz aus der Battle Of Bastards. Über allem spuckt Lindberg sein Hatecore-Black Metal-Feuer wie Drogon. "Satanismus heißt nicht, böse zu sein. Satanismus ist ein Synonym für Freiheit", erklärt der Frontmann im Metal Hammer 1993 seine Wut.
"Never again / My tired eyes have seen enough / Of all your lies / My hate is blind". Die Zeilen aus dem Titeltrack sind Programm, und Lindberg verdichtet die einst ausufernden Lyrics auf schlagkräftiges Punchline-Niveau. Drei Minuten pro Track reichen völlig, "Blinded By Fear", "Slaughter Of The Soul", "Cold" - die Luft zum Atmen schwindet zusehends. Dort wo Kerry King die Brutalität der Welt in fieses Gekniddel gießt, schreddert Anders Björler den süßen Schmerz der Hoffnung aus seiner Gitarre. Man hat mitunter das Gefühl, in einem Bombenhagel zu stehen – und sich zu freuen ob der reinigenden Wirkung. Denn immer wieder schleicht sich eine unheimliche Catchyness in Riffs und Hooks, ohne überladen und gewollt zu wirken ("Under A Serpent Sun"). Dank Produzent Frederick Nordström unterstützt der messerscharfe, aber volle Sound dieses Mal die Zeitlosigkeit des Werks.
In der Mitte des Album erlauben die Schweden ihren Headbanger'innen mit dem atmosphärischen Instrumental "In The Dead Sky" eine kurze Pause. Danach geht der musikalische Angriff auf die degenerierte "Suicide Nation" weiter wie zuvor. Der Nacken brennt mittlerweile – und dann kommt "World Of Lies". Das Gitarrenriff erniedrigt mit seinem monströsen Groove jeden Sick Of It All- oder Biohazard-Song in den ersten zehn Sekunden. Wer hier nicht springt, hat keine Beine. Der Rest gibt einem dann denselben. 35 Minuten dauert die Schlacht. 35 Minuten, die einen erschöpft aber glücklich zurücklassen wie nach einem vollendeten Marathon.
At The Gates ist mit "Slaughter Of The Soul" das perfekte Album gelungen. So perfekt, dass die Band sich danach sofort auflöst, in ebenfalls extrem hörenswerten Gruppen wie The Haunted oder The Crown aufgeht und neunzehn Jahre lang aus Angst vor dem Versagen kein weiteres Werk veröffentlicht. Erst 2014, als der von ihnen etablierte Stil längst den Metal dominiert, kehren die Göteborger mit "At War With Reality" zurück. Und es ist, als hätte es die lange Pause nicht gegeben. Wo der letzte Speed-Banger "Need" 1995 aufhört, setzt der Opener des fünften Studioalbums an und lässt die Herzen alter wie neuer Fans höher schlagen. Der Sound bleibt gleich und klingt auch Jahre später frisch wie in den dunklen Träumen in Göteborg Mitte der 90er. Wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass "Slaughter Of The Soul" zu den größten Metal-Scheiben aller Zeiten zählt, dann erbrachten ihn At The Gates mit dem Comeback-Werk selbst.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
6 Kommentare mit 7 Antworten
Der Gender-Asterisk ist eine Taste weiter oben.
Das Album von Dark Tranquillity heißt "The Gallery" und nicht "At The Gallery". Na ja, ab da hab ich eh aufgehört zu lesen. Oh Mann, echt ey...
Ups Dabei habe ich alle Tranquillity scheiben und liebe sie. Muss an der Grippe oder am Wetter gelegen haben. Sorry.
Vergeben. Liest sich jetzt auch viel besser;)
"Wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass "Slaughter Of The Soul" zu den größten Metal-Scheiben aller Zeiten zählt"
Urgs, immer diese übertriebene Hochstapelei. Schließen sich gewitzte Rezensenten und Metal eigentlich gegenseitig aus?
Zum Album: Mag wegweisend sein, ändert aber nichts daran, dass es todlangweilig vor sich hin holzt....
Schon wieder ein Metal-Album in dieser Rubrik? Ein bisschen mehr Vielfalt wäre angebracht, da manche Genres (z.B. Country) fast nie bedacht werden. Sicherlich hat jeder in der Redaktion musikalische Präferenzen und Abneigungen, aber als Musikjournalist sollte man auch breit aufgestellt sein.
Ich habe gehört, ein Internetzugang und Zugriff auf Wikipedia reichen oft schon aus...
Vllt noch Google translate
Wie wäre es mit Get Ready von New Order. Absolut scharfes Comeback Werk?
Country? Okay.
Auch softe Sachen haben diabolische Texte... Beispiel gefällig? Time is on my Side von den Rolling Stones.
sympathy for the devil?
Bin selber ein großer Fan von Dark Tranquillity, kann aber At the Gates nicht viel abgewinnen. Finde auch, dass der Rezensent etwas übertreibt mit "zu den größten Metal-Scheiben aller Zeiten". Zudem glaube ich nicht, dass jeder Musikfan dieses Album gehört haben muss, um mal eure eigene Definition von Meilenstein zu zitieren: "Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss."