laut.de-Kritik
Ein Rock-Labyrinth zwischen Gut, Böse und Tod.
Review von Jürgen LugerthWenn man einen Rock-Fan auf die US-Amerikaner Blue Öyster Cult anspricht, kommt oft die Reaktion: "Haben die nicht dieses Lied vom Sensenmann gemacht?" Damit meinen sie das selbst im Mainstream-Radio regelmäßig vertretene, fast tot genudelte Stück "(Don't Fear) The Reaper".
Es ist ja nicht so, dass dieser Song schlecht ist, beileibe nicht. Aber erstens wird er an solchen Orten immer in der verachtungswürdigen Kurz-Version gespielt, der man zwecks leichterer Konsumierbarkeit den sehnsuchtsvoll-dramatischen (Herz-)Teil mit dem genialen, klassisch gefärbten Gitarrensolo weggeschnitten hat. Und zweitens verhält es sich hier wie mit vielen Signature-Stücken von anderen Bands. Irgendwann kann man das Ding nicht mehr hören.
Dazu kommt, dass viele Leute wegen dem einem Song das dazugehörige Album "Agents Of Fortune" für das beste der mystischen Truppe aus New York City halten. Ist es aber nicht. Denn obwohl diese Scheibe die kommerziell erfolgreichste von BÖC (so das übliche Band-Kürzel) ist und noch ein paar andere starke Stücke wie etwa "This Ain't The Summer Of Love", "E.T.I. (Extra Terrestrial Intelligence)" oder "The Revenge Of Vera Gemini" aufweist, ist sie musikalisch nicht so geschlossen und gehaltvoll wie beispielsweise eben "Secret Treaties". Sie stellt mit ihrer Öffnung zu allen möglichen Stil-Richtungen den Anfang einer Entwicklung dar, die später ein paar der schwächeren Outputs der Band hervorbrachte.
Die treuesten, beinharten BÖC-Fans, von denen es doch eine ganze Menge gibt, sind sich meist einig, dass die ersten drei Alben "Blue Öyster Cult", "Tyranny And Mutation" und "Secret Treaties" das Fundament sind, auf denen das ganze Band-Gefüge ruht, und dass diese Trilogie essentiell und unübertroffen ist und bleibt. Der Mythos, das Mysterium, die Magie von Blue Öyster Cult wurden mit diesem flotten Dreier geschaffen und trotz einer langen Karriere, die bis heute andauert, nie mehr überboten. Deshalb erscheint es nur recht und billig, den Schlusspunkt "Secret Treaties" an dieser Stelle zu präsentieren.
Zudem bietet das Album die größte Reibungsfläche für Kontroversen aller Art. Das geht schon beim Cover-Artwork los, das den auf der Platte in einem Stück besungenen Kampfjet ME 262 aus unseligen Dritte Reich-Zeiten mit dem berüchtigten BÖC-Logo an der Heckflosse und der Band als Besatzung wahlweise mit lebenden oder (auf der Rückseite) toten Schäferhunden im schicken Bleistiftzeichnungs-Stil zeigt. Aus allen möglichen Ecken der politischen Korrektheit wurden die Amis daraufhin als Nazi-Sympathisanten verdächtigt. Eindeutige Belege dafür gab es nie. Das Cover sollte wohl einfach für mehr Aufmerksamkeit sorgen. Jedenfalls sind Blue Öyster Cult nie in ihrer Karriere durch irgendwelche zwielichtige politische Sprüche aufgefallen. Über Geschmack lässt sich hier natürlich streiten.
Musikalisch ist "Secret Treaties" aber ohne Fehl und Tadel. Hier vereinen sich acht geniale, eindringliche Rock-Tracks zu einer geheimnisvollen, mit kryptischen, manchmal geradezu unverständlichen Texten illustrierten Reise durch das BÖC-Universum, in dem es zwar immer mächtig rockt, aber vieles im Halbdunkel, in einer Art Fantasiewelt und in einer manchmal beklemmenden Atmosphäre verborgen bleibt. Die Palette der Emotionen auf diesem Stück Musik reicht von Paranoia, Angst und Hysterie bis zu (männlicher) Selbstüberschätzung, liefert aber auch romantische Gefühle und ahnungsvolle Sehnsucht.
Los geht's mit dem von Allen Laniers Keyboards getragenem und mit repetitiven Riffs unterlegtem Statement "Career Of Evil", das trotz aller von Sänger und Gitarrist Eric Bloom angedrohten Missetaten so souverän und flächig-melodisch rüberkommt, dass man sich auf die kommenden Torturen eher freut. Dominanz und Unterwerfung, Lust und Leid, wie nah liegt das doch oft beieinander.
Fast nahtlos geht die Karriere des Bösen über in den "Subhuman", zu deutsch "Der Untermensch", gemächlich vom Bass getrieben, mit wundervoll eingefügten stolpernden Zwischenriffs, mit elegischen Gitarrensoli vom Meister der Reduktion Buck 'Dharma' Roeser und einer versonnen über allem schwebenden und gelassen rezitierenden Stimme, die wieder mal Unverständliches äußert. "I am becalmed, lost to nothing, warm weather and holocaust." Da sind sie wieder, die bösen Nazis. "So ladies, fish and gentleman, here's my angled dream, see me in my blue sky bag and meet me by the sea." Das verstehe, wer will. Aber es klingt geheimnisvoll und morbide. "Oyster boys are swimming now, hear them chatter on the tide. We understand, we understand, but fear is read and so do I." Alles klar?
Ein paar gedämpfte Schläge auf der ominösen Cowbell leiten in das klaustrophobische Riffwunder "Dominance and Submission", in dem es möglicherweise um irgendetwas sexuell Unbotmäßiges an irgendeinem Silvester geht. Wer zur Hölle versteht schon BÖC-Texte? Vor allem aber ist das Ding ein teuflisch treibender und drängender Rocker, der sich zum Schluss hin zu einer veritablen Klimax steigert, inklusive einer heulenden Gitarre, die den Puls auf Rekordtempo treibt.
Undefinierbare Unterwasser-Signaltöne führen zum Stein des Anstoßes, zu "ME 262", einer seltsamen, von schneidenden Rock'n'Roll-Riffs befeuerten akustischen Geschichtsstunde, die von der finalen Abwehrschlacht der deutschen Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg erzählt - teilweise aus der Sicht eines Piloten des so benannten Düsenjägers, der die sich nähernden 'Fliegenden Festungen' abwehren soll. Blecherne Funkkommandos, Bombenexplosionen und Sirenengeheul gibt es kostenfrei dazu. Und sogar der Schnauzbartträger, der die deutschen Autobahnen nach Meinung einiger Verwirrter ganz allein gebaut hat, ist kurz mal am Telefon. Gespenstisch und Gänsehaut erzeugend. Aber ein geiler Rocker und ein eindrückliches Schlachtengemälde ist das allemal. Die spinnen, die Amis. Das war schon immer so.
Stramme Drums und klingelnde Becken, eine klassische Hammond-Orgel und vielstimmiger Gesang prägen "Cagey Cretins", drängend, dräuend und textlich mit allerlei neurotischen Angstgefühlen befrachtet. Die Stimmen transportieren Verzweiflung. Aber wir erfahren, dass es einsam ist im Staate Maine. Immerhin.
Das folgende "Harvester Of Eyes" ist wiederum ein unverwechselbar tapfer vorwärts stampfendes Riffmonster mit schleppenden Einschüben und einem wunderbaren Thema. Es geht um die freundlichen Maden, die dir, wenn du endlich im kühlen Grabe liegst, die Augen aus dem Kopf fressen. Guten Appetit.
Am Ende des Stückes klingelt plötzlich eine Spieluhr Kindermelodien vor sich hin. Pling, pling, pling. "Flaming Telepaths" kracht mächtig dazwischen und erzählt Geschichten von Isolation, Drogensucht und der dazu gehörigen Nadel. Musikalisch eine Urgewalt zwischen Klavierakkorden, Synthesizerklängen, schmachtenden Gitarren und anklagendem Gesang. Fast wie ein früher Entwurf für den später folgenden, unkaputtbaren "Reaper". Schönheit und Verzweiflung. "And the joke's on you!"
Nur zwei, drei Klaviertupfer weiter kommen wir zum schillernden, sternfunkelnden Schluss, zur einzig wahren BÖC-Ballade für die Ewigkeit namens "Astronomy". Die Meisten kennen diese Perle wohl in der grobschlächtigen Coverversion von Metallica, die aus dem über sechsminütigen Paradebeispiel für sehnsuchtsvolle Romantik einen austauschbaren Langweiler gemacht haben. Hier aber, in all seiner Intensität, Dynamik und Untröstlichkeit schmeißt dich dieser Song am Ende unerbittlich mit dem Heulen unfreundlicher Winde aus der bizarren, Furcht und Todesmut zugleich erzeugenden Welt von Blue Öyster Cult hinaus.
Danach bleibst du allein zurück, irgendwo an einem unbekannten nächtlichen Strand, fremde Sterne über dir und mit Tränen in den Augen. Nackt und schutzlos in der Wildnis, wie einstmals der arme Hobbit Frodo in Mordor. Schau, wie du damit klar kommst. So etwas bewirkt nur ein wahres Meisterwerk. Hier ist eines. Seit 1974, am besten als Schallplatte zu genießen.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
4 Kommentare mit 7 Antworten
Großartige Band, sensationelles Album, kenntnisreiche, emotionale Rezi. Alles richtig gemacht. Daumen hoch!
yeah, beste platte von ihnen. astronomy ist ebenso einer der besten rocksongs aller zeiten. tolle rezi
Die auf dem Album enthaltene Version von Astronomy ist für mich auch die definitive. Die von Imaginos oder andere stinken dagegen ziemlich ab.
Oh ja. Coole Band auf jeden Fall! Muss mir auch mal die älteren Alben von BÖC reinziehen. Bands wie etwa Ghost orierentieren sich natürlich an denen.
einstiegstipp: die ersten drei als trilogie hören. die sind umwerfend. dieses hier plus "tyranny & mutation" plus das debüt.
Danke für den Tipp! Hatte neulich "Fire of Unknown Origin" laufen, das fand ich schon sehr nice!
"Cultosaurus Erectus"! Mehr Härte und sogar bissel Jazz
Wenn du Ghost magst, dürfte dir das "Spectres"-Album zusagen. Augenmerk hier v.a. auf den letzten Track "Nosferatu".
"Fire[...]" ist aber auch ein endlos geiles Album. Burning for you, Veteran of the Psychic Wars und besonders Joan Crawford gehören für mich zu BÖCs stärksten Sachen.
das finde ich auch. vielen gilt die "fire" ja als zu "aor/melodic rock". aber sie hat es in sich.
...und an mommie dearest kommt man eh nicht vorbei.
hab' sie auch noch auf Vinyl, aber leider im moment keinen Plattenspieler angeschlossen, aber nach dieser Rezi muss ich unbedingt mal wieder reinhören - danke