laut.de-Kritik

Mit Dynamit stromaufwärts im Hype-Fluss.

Review von

Dicker Major im Rücken, trendschielender Deutschrock - es nimmt nicht Wunder, wenn Axel Bosse schon beim Solo-Debüt reichlich Airplay auf MTVIVA erhält. Die Single rotiert mit Schmackes, wofür sich der Mittzwanziger im Booklet artig bedankt. Und auch bei Diesel- und Chico-Designern, denn: "Das trägt Bosse gern." Ein neuer zurechtgestutzter Kommerz-Happen für die derzeit so germanophile Musikgemeinde also? Muss er auf der Ideenhinterbank Platz nehmen, wo sich schon Silbermond, Madsen und Co. lümmeln? Ja. Und nein! Denn das Produkt "Axel Bosse" ist nicht wirklich auf Hochglanz getrimmt. "Kamikazeherz" steht eher in Analogie zu Schmirgelpapier. Wobei das Adjektiv "rau" natürlich nur in Relation zu den Sitzenbleibern gilt.

Nichtsdestotrotz gehören "relativ" und "verhältnismäßig" nicht zum Alltagswortschatz des Wahlberliners. Im Gegenteil birst seine Lyrik oft vor Kompromisslosigkeit. Gleich im wortschwallenden Auftakt "Keine Panik" rechnet er gnadenlos mit der Betonwaldlandschaft um sich herum ab. Stolpert über Müllkippen und begegnet auf der Straße ausschließlich Psychatriepatienten. Die Zeile "Ich glaub die größten Silikonlippen und alle eure Liftings sind Gedenkstätten dieser Zeit" spuckt Gift und Galle auf die fadenscheinige Fit For Fun-Gesellschaft. Bosse hat endgültig genug von Leuten, die draußen lächeln und zuhause weinen ("Explodiert").

Und weil das Feuer in ihm brennt, gründet der Pyromane in "Kraft" zwischen Kneipentheke und Spielautomaten nebenbei eine neue Jugendbewegung. "Veränderung", Initiative", "Bewegung" steht auf ihren idealistischen Fahnen, jeweils mit dicken Ausrufezeichen dahinter. Da winkt schnell mal die Pathosschelte. Ihm egal. Und wer mit eruptiven Gefühlsergüssen kein Problem hat, schließt sich bitte an. Denn "Kamikazeherz" liefert genügend schlagkräftige Argumente für einen Platz auf dem Kamm der Deutschwelle.

Musikalisch unterfüttert Bosse die straighten Rockismen ein ums andere Mal mit elektronischen Beats. Durch "Stadtastronauten" pluckert ein autoprogrammiertes Casio-Keyboard, "Novemberregen" sprengt im knarzenden Duett mit Paulas Elke Brauweiler den Soundrahmen. Weil beide wollen, "das Frieden wird". Menschen mit Kitschallergie skippen hier schnell weiter, Ausschlag droht. In "Inspiration" zimmert ihm die Backing-Band, rekrutiert aus Uncle Ho- und Heyday-Mitgliedern, ein düsteres Grunge-Gerüst. "Skizziert" fängt das Soundbild der Sportfreunde präzise ein und besitzt zugleich mehr inhaltliche Tiefe.

Über weite Strecken ordnen sich die Musiker aber Bosses Worten unter. Darin verstecken sich einige schöne Neophrasismen: Zur Winterzeit fühlt sich der Großstadtpoet demprimiert und kalt, als würde Schnee in seinen Körper fallen. Er kauert ungeboren in personifizierten Korridoren und liegt draußen im Universum auf der faulen Haut. Aber auf keinen Fall lässt sich Bosse von Werbung zerdrehen, auch wenn die Schnelligkeit alle Träumer verschluckt. Irritationen im Normalen, fürwahr.

Letztlich wäre "Kamikazeherz" trotz guter Ansätze nur durchschnittlich, stünde nicht das epische Sahnehäubchen "Das Kleinste Glück" am Schluss: Bedrohlicher Synthiebass sorgt für Tiefgang, Streicher und düsterer Gesang leisten ebenfalls Beiträge zum Gelingen. Geistiger Vorlagengeber scheint hier das "Tannhäuser"-Drama der seligen Refused gewesen zu sein. Der Ausbruch lässt einige Minuten auf sich warten, packt heftigst am Schlafittchen, holt noch einmal aus und tritt gnadenlos nach. Gänsehaut. Dafür und für die ungewöhnlich kritischen Texte gebürt Bosse Respekt.

Trackliste

  1. 1. Keine Panik
  2. 2. Inspiration
  3. 3. Kraft
  4. 4. Niemand Vermisst Uns
  5. 5. Stadtastronauten
  6. 6. Diese Tage Sind Verloren
  7. 7. Skizziert
  8. 8. Kamikazeherz
  9. 9. Kilometerweit
  10. 10. Highspeed
  11. 11. Novemberregen
  12. 12. Winterzeit
  13. 13. Reprise
  14. 14. Explodiert
  15. 15. Das Kleinste Glück

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