laut.de-Kritik
Pop, Reggae, Stadionrock und ein sensibler Soul-Crooner.
Review von Philipp KauseDie 80er Jahre waren das Jahrzehnt von Boy George und Culture Club. Das hört man "Life" allerdings kaum noch an, sieht man von einigen Anleihen bei UB 40 ab. In erster Linie drückt Soul in mehreren Spielarten (Blue Eyed Soul, Chicago Soul, Philadelphia Soul) dem neuen Album seinen Stempel auf. Damit malen die Briten Musikfarben der '70er in neuen Tönen und Schattierungen - das aber wohl dosiert, nur in ein paar Songs.
Weitere Einflüsse beziehen Boy George und Culture Club aus den frühen und späten 90er Jahren (von Acid-Jazz bis Britpop). Einzelne Rock-Tupfer, zum Beispiel der Industrial-Gitarren-Style gegen Ende des Songs "God & Love", sowie eine fette Portion Reggae und andere karibische Rhythmen runden das Album ab.
Die Songtexte heben die Welt zu Beginn noch nicht aus den Angeln. Doch auf Albumlänge setzt sich - wie ein Puzzle - ein unerwartet kritischer Blick auf die Menschen zusammen. Liebe nimmt Boy George als Revolution, Krieg und "famine" (Hunger, in "Let Somebody Love You") wahr. Für das alles stand die Liebe in den 80ern mindestens aus Sicht trans- und homosexuell orientierter Menschen auch, noch gar nicht so lange her. Die polemische Zusammenfassung steht dem Culture Club dank seiner multimedialen Verschiebung von Gender-Konventionen und Schranken zu, denkt man an die Video-Clips der Band aus dieser Zeit.
Dass die Schlachten bei weitem nicht ausgefochten sind, bringt Boy George anhand vieler kleiner Beobachtungen zur Sprache. Spannend und schön gemacht ist es, wie er diese Thematik sowohl in warmen, amerikanisch klingenden Offbeat-Retro-Songs ("Human Zoo", "Runaway Train", "Different Man", "What Does Sorry Mean?"), als auch in pathetischem Britpop ("Oil & Water", "Bad Blood", Titelsong "Life") umsetzt.
"Human Zoo" wagt einen distanzierten Blick auf menschliche Verhaltensmuster. Schillernde Percussion-Akzente, die wie Vibraphon klingen, erzeugen eine karibische Stimmung, gebaut aus Calypso-, Soca- und Salsa-Musikmustern, verbunden mit punktuellen Rock-Zitaten. Manche Leute würden diesen Stilmix 'exotistisch' nennen, und ich nenne ihn cool.
"Life" lässt vieles nebeneinander zu. Wundersamer Weise ergibt sich dann am Ende ein sehr rundes Bild mit einem klar erkennbaren roten Faden. Die Musikbausteine prallen nicht willkürlich aufeinander, sondern der Stil pendelt immer dynamisch zwischen Rock/Pop und Soul/Reggae. Heutige und frühere Musikästhetik führt der Culture Club mit sicherem Gespür zu einem angenehmen Kompromiss zusammen - auch wenn nicht jeder Spagat ganz glückt. Gerade "God & Love", als Einstiegssong eigentlich die Visitenkarte des Albums, muss man wohl mehrmals hören, bis der Tune einen wirklich mitnimmt.
An den Stadionrock-Anklängen der Sorte, wie wir sie von Queen und Journey kennen, kann man in "More Than Silence" zweifeln: Passt das zum Rest, und passt das zu Boy George? Doch auch diesen Rock-Ausflug gestaltet er subtil, weniger holzschnittartig als die großen Rock-Bands - also immer noch glaubwürdig, wenngleich ein spröder Song. Genau das muss er sogar sein, denn an dieser Stelle ("Silence", Schweigen), wo Menschen einander nix mehr zu sagen haben, passt die scharfe Rockgitarre.
"What Does Sorry Mean?" brilliert mit der Gesangsstärke von Boy George. Ein starker Soul-Crooner, wow! Da vibriert wieder genau das, was uns an "Do You Really Want To Hurt Me" vielleicht geflasht hat. "What does sorry mean, when tears are seldom seen? What good is regret, if you don't feel it yet? What does sorry mean, when there's no love to be seen?", so spricht er ein verbreitetes Phänomen unserer Zeit an: Wann kann man eine Entschuldigung annehmen? Reicht ein Lippenbekenntnis? Wie schnell ist eine vermeintliche Beleidigung aus einer SMS, Whatsapp- oder Messenger-Nachricht herausgelesen oder in sie hinein interpretiert? Im Zeitalter der flink mit dem Finger geschnippsten Kontaktabbrüche kommt dieses Plädoyer für mehr Ehrlichkeit gerade recht.
An der Umsetzung fasziniert insbesondere, wie sich der 57-jährige George Alan O'Dowd a.k.a. Boy George dem Gesang von Philly Soul-Legenden wie Teddy Pendergrass und Harold Melvin annähert. Massives Soul-Talent beweist der Culture Club auch im Mittelteil von "Different Man". Kirchliches Flair veredelt diese anrührende Komposition.
Insgesamt rutscht diese CD trotz des sensiblen Gesangs nie in Kitsch ab. Bitterkeit und Biss übernehmen das Ruder, wo Süßlichkeit und Gesäusel drohen. Das gilt für die Texte ("now I'm in the wilderness, somewhere in the heart of Spain. I am fire, you are water.", "Oil and water, that's what we are."), und es gilt für die Musikgestaltung. Harte Rückkopplungen wie im sonst eher nach Robbie Williams klingenden "Oil & Water", scharfkantiger Acid-Jazz-Funk in "Resting Bitch Face", wo der Ton mal 'derogativ' wird - eine prima Bandbreite!
Das hymnische "Life" als Single drückt die versöhnliche, optimistische Schlussbotschaft aus, "you give me hope and you give me life". Natürlich benötigen wir unsere Mitmenschen doch zumindest ab und zu wegen des Mutes, den sie uns zusprechen können, der Bestätigung, Lebenslust oder Motivation. Die Menschen als soziale Wesen, die sich gegenseitig verarschen und emotionale Gewalt ausüben, liegen zwar als Hauptthema über der Platte. Reizvoll dagegen klingt es, wie unterschiedlich die Arrangements (sehr gut etwa in "Bad Blood") konstruiert sind. Selbst der Pop-Reggae im Sinne von UB 40 kommt weniger ruckelig und Leierkasten-artig daher, sondern elegant.
Bei "Life" handelt es sich überraschender Weise nicht um die "Hallo, ich will im Weihnachtsgeschäft mitmischen"-Comeback-Nerv-Scheibe. Nein, Culture Club geben uns, was wir wirklich brauchen: mit Herzblut gemachte Musik, extra für diesen Moment geschriebene Songs, mit der warmen und doch rauen Stimme von Boy George eine sehr präsente Performance, Professionalität, Gefühle, starke Soundqualität. "Life" lohnt sich!
3 Kommentare
passt! Ich hatte ein bisschen Angst, bin aber überrascht, wie gut die Platte doch ist.
"do you really wanna hurt me" (Audun Carlsen 2007)
Bin auch überrascht. Eigentlich hatte ich nichts mehr grossartiges erwartet aber die Platte kann sich hören lassen. God & Love , Runaway Train , Life sind grossartige Songs. Schönes Soul Pop Album mit Reggae Flair , hätte besser zum Sommer gepasst.