laut.de-Kritik

Mit Vollgas in die Belanglosigkeit.

Review von

Auch 2023 erwartet Deutschland von einem neuen Casper-Album gleichzeitig alles und nichts. Der Mann bleibt einer der wenigen Musiker*innen hierzulande, der nicht vor emotionalisierten Konzepten zurückschreckt, der mehr als nur Playlisten für den Algorithmus machen will, der seine Zuhörer*innen fordert, der Finger in Wunden legt, die wirklich weh tun. Irgendwie will man nicht so ganz wahrhaben, dass all diese Qualitäten schon mit dem ersten großen Album ihren Zenit erreichten. Doch seit "XOXO" entpuppt sich Casper mit jedem weiteren Album mehr und mehr als One Trick Pony, mit eben genau einem Trick, der von Jahr zu Jahr mit jeder Aufführung ein Stück mehr seines Reizes verliert.

Dabei kann man dem Mann die Ambition sicherlich nicht absprechen, gerade seine letzten beiden Alben fuhren alle Geschütze auf, um seiner Hörerschaft klar zu machen, dass Casper kein Musiker, sondern ein waschechter Künstler™ ist. Doch mit all den emotionalen Crescendos, Indie-Crossovern und wunderschönen Videos ging auch immer ein wenig Krampf einher. Casper bläst seine Musik immer zum größtmöglichen Paukenschlag auf, besingt jedes Thema mit einer Dramatik, als würde er gerade die Welt verändern, erlaubt sich keine artistischen Unseriösitäten. Ein Casper-Popsong darf nicht einfach nur Popsong sein, er muss auch eine Message und einen betrübten Unterton haben.

Im Grunde müsste genau deshalb ein Album wie "Nur Liebe, Immer" interessant ausfallen. Casper sagte über den Entstehungsprozess, dass das Projekt ursprünglich als Mixtape angelegt war, als lockeres Sammelsurium an Musik, die seinem Studio seit den Sessions zu "Alles War Schön Und Nichts Tat Weh" entfleuchte. Kein Konzeptalbum also, keine Überkunst, kein Krampf. Stattdessen reichlich Potential, sich auszutoben, sich aus der Komfortzone zu wagen, sich neu zu erfinden.

Doch "Nur Immer, Liebe" stellt so ziemlich das genaue Gegenteil davon dar. Ja, man hört dem Album seinen Mixtape-Charakter definitiv an, ein Kompliment ist das allerdings nicht. Anstatt neue Facetten seiner selbst zu präsentieren, wirft Casper einfach alle, die wir bereits kennen, in einen Topf, streut ein wenig Zeitgeist hinein und schenkt dem Endprodukt nur einen Bruchteil der Liebe, die in seine bisherigen Alben flossen.

Gitarren gehen Hand in Hand mit 808s, es wird gerappt, es wird gesungen, es wird getanzt, es wird geweint. Nur wirklich hängen bleibt davon am Ende nahezu nichts. Nach einem starken Start auf "Echt Von Unten / Zoé Freestyle", wo Casper mit einem wirklich schönen, elegischen Vocal-Sample Tango tanzt und einen seiner besseren Seelenstripteases hinlegt, vollzieht das Alben einen abrupten U-Turn und rast mit Vollgas in die Belanglosigkeit.

Die große Lead-Single von "Nur Liebe, Immer", ein müdes Duett mit Cro, tarnt sich als "Sommer"-Song, malt aber wieder Wolken an den Himmel und vermischt Motive wie Klimawandel, Nostalgie und Depression so halbherzig und oberflächlich mit einer Indie-Instrumentierung aus der Dose, das eine KI fast schon neidisch werden muss. Das klingt nicht per se schlecht, aber unglaublich uninspiriert.

"Sowas Von Da (Hellwach)" öffnet noch vielversprechend mit seinen einschneidenden, japsenden Midnight-City-Synths, doch macht anschließend absolut gar nichts mit ihnen. Der Elektro-Einschlag auf "Falsche Zeit, Falscher Ort" klingt furchtbar bemüht und unsouverän, und das einzige, was "Immer Noch Nervös" von einem Mark Forster-Song mit Rap-Feature unterscheidet, ist Caspers verrauchte Stimmfarbe.

Denn auch seine Fähigkeiten als Geschichtenerzähler erreichen auf diesem Album einen vorzeitigen Tiefpunkt. Nach den ersten teils noch wirklich emotionalen Einblicken auf "Echt Von Unten" beginnt die narrative Platte schnell zu springen. Nahezu alle Themen, die er besingt, kennen wir bereits in besserer Ausführung aus Caspers Feder. Es geht wieder um die eigenen Dämonen ("Sowas Von Da"), um verflossene Liebe ("Immer Noch Nervös"), um Jugendsünden ("Falscher Zeit, Falscher Ort") und natürlich um Bielefeld ("Verliebt In Der Stadt Die Es Nicht Gibt"). Dabei entsteht nie eine Fallhöhe, es gibt keinen narrativen Bogen, die Songs sind ein gleichgültiges musikalisches Schulterzucken. Sie enden emotional an dem Punkt, an dem sie beginnen, Gefühle versanden im Nichts.

Auch "Emma", das uns mit seiner Akustik-Tönung und dem sanften Anschwellen am Ende eine melancholische Progression vorgaukeln will, erzählt im Kern nur wenig. Der ganze Inhalt des Songs steckt im Titel. Es geht um MDMA, um ein Mädchen, das Drogen nimmt. Nicht im tragischen Sinne, Casper konstatiert hier im Grunde nur Tatsachen, als würde er bei einem Outdoor-Rave in den Büschen liegen und eine 18-Jährige bei ihrem ersten Trip ausspannen. Es ist ja vollkommen in Ordnung, einen Song darüber zu schreiben, dass Drogen nicht immer böse sind, und sich gut anfühlen können, aber meine Fresse, dann lass es bitte nicht so klingen, als hätte sich gerade jemand den goldenen Schuss gesetzt.

Casper singt auch 2023 immer noch am liebsten über die kaputte Jugend und ihre Probleme und er tut es mit einem Pathos und einer Verbundenheit, als sei er noch Teil von ihr. Dabei wächst mit jedem weiteren Album die Kluft zwischen seinem 41-jährigen Ich und den Menschen, deren Lebensrealitäten er mit Geschichten seiner eigenen Jugend spiegeln möchte.

Wenn man ihm dann zuhört, wie er mit demselben Ton und Pathos auf "Wimpernschlag" und "Luft Holen" das Hadern mit seinem Star-Status, das Tour-Leben und damit einhergehende Zerwürfnisse besingt, wird offensichtlich, dass er wirklich nur diesen einen Modus kennt. Wird es in Caspers Texten ernst, und das wird es oft, hat man jedes Mal das Gefühl, er kramt seine alte Jeansjacke aus dem Schrank, steigt aufs Skateboard und flüchtet zurück in sein altes Kinderzimmer. Das hatte durchaus mal Charme, aber an diesem Punkt wandelt sich die Nostalgie mit jedem Blick zurück in die eigene Vergangenheit zunehmend zur Midlife-Crisis.

Trackliste

  1. 1. Intro
  2. 2. Echt Von Unten / Zoé Freestyle
  3. 3. Sowas Von Da (Hellwach)
  4. 4. Sommer (feat. Cro)
  5. 5. Immer Noch Nervös
  6. 6. Emma
  7. 7. Falsche Zeit, Falscher Ort
  8. 8. Bist Du Noch Da?
  9. 9. Wimpernschlag
  10. 10. Luft Holen
  11. 11. Verliebt In Der Stadt Die Es Nicht Gibt
  12. 12. Outro

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10 Kommentare mit 15 Antworten

  • Vor 11 Monaten

    Gott. Ist. Das. Gut.

    1. Super produziert. Irgendwo zwischen Headbanger Rap, Funk, Trap und Lil Waynes Instrumental Parts auf den ersten Alben. Tolle Samples und Zitate von Oscar Wilde bis Blumentopf (zu ihrer Prime!).

    2. Rapparts: Diese Stimme ist gefährlich. Die meisten Reime bei sowas enden auf -sch oder auf -a. Aber er bekommt das irgendwie gebacken. Ohne Autotune aber irgendwie auch feinfühliger als Hardcore Rap. Am bemerkenswertesten ist seine Fähigkeit auch öfters mal ganz ohne Reime auszukommen. Nicht so ein kreativer Wortbauer wie Gentleman oder Samy aber irgendwie doch stimmig. Man wünscht ihm natürlich eine geschmeidigere und mezzo-sopranere Stimme, aber dafür kann er ja nichts.

    3. Storytelling Großartig. Studioalbum im besten Sinn. Nur wenige Schwache Tracks (Intro z. B.). Vielschichtig und oft auch gar nicht beim ersten oder zweiten Mal zu verstehen. Normalerweise sind Typen die über ihr Emo Life und schwere Jugend erzählen extrem langweilig. Gelingt nur wenigen im Deutschrap. Meistens erschöpft sich das darin, Grabsteinsorten und Selbstmord-Varianten aufzuzählen und sich selbst zu attestieren man sei der meist im Stich Gelassenste (und ähnlicher Scheiß). Das soll dann angeblich glaubwürdig sein, ist aber meist einfach nur lächerlich. (Bin ja nicht blöd: natürlich ist Rap nie vollständig echt und die gedrückten Tränendrüsen viel Tam Tam - sonst wär's ja keine Kunst). Oder man macht das halt halb-ironisch, aber das hat der Ca$$ler auch nicht nötig. Ist irgendwie glaubwürdig weil das irgendwie ehrlich wirkt (ist mir auch egal ob das dann 100% (auto)biographisch) ist.

    4. Skits: Ich erst so: was soll der peinliche Scheiß mit den Klarinetten? Aber irgendwie passt auch das. Kein Proseminar in Soziologie aber schon bemerkenswert inklusive einer doch irgendwie intelligenten generalsoziologischen Abhandlung zum § 833 BGB und dem Verhältnis von Freiheit und Verantwortung. Sebastian Krumbiegel wäre stolz (wahlweise auch Wessi).

  • Vor 11 Monaten

    Die Review deckt sich ziemlich mit meinem eigenen Eindruck, die ersten beiden Songs kann man sich noch halbwegs geben, dann gehts steil bergab. Vier Studioalben nach XOXO muss man leider sagen, dass jedes weitere seitdem ein Rückschritt war (Hinterland vllt mal ausgenommen). Mittlerweile ist das einfach nur noch Pop-Rap à la Mark Forster, ich kauf Casper spätestens mit diesem Album nicht mehr ab, dass er noch in die Kategorie „Hip-Hop-/Rap-Künstler“ gehört. Das schlimmste ist, er könnte es eigentlich, wenn er sich endlich von dem ganzen unnötigen Pathos und dem Mainstream-Pop-Appeal befreien würde, der auf den letzten beiden Alben allgegenwärtig war. 2/5.

    • Vor 11 Monaten

      Seine disco war bis lang lebe der tod sehr solid.

    • Vor 11 Monaten

      „Lang lebe der Tod“ hatte einige starke Momente (vor allem den Titeltrack), aber konnte mich weder bei den Lyrics, noch bei den Instrumentals über die gesamte Spieldauer überzeugen. Bei einigen Songs (z.B. „Keine Angst“) zeigen sich schon dieselben formelhaften, unkonkreten Lyrics wie im gesamten neueren Output. Deswegen habe ich das seinerzeit schon als Rückschritt zu den ersten beiden Alben empfunden, wenn auch natürlich noch auf vergleichsweise hohem Niveau im Vergleich zu dem neuen Album.

  • Vor 11 Monaten

    Der kann alles aber seinen Vibe fühl ich nicht. Gehört doch zu Deutschlands Top Tier.