laut.de-Kritik

Zeitlos im Klang, im Ausdruck und in der Songqualität.

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Das Time Magazine schrieb einmal, dass die am 4. Dezember 1955 in Jackson, Mississippi geborene Cassandra Wilson "Amerikas beste Sängerin" sei. Die Ansicht muss man nicht unbedingt teilen, aber ihr markantes, warmes Alt erkennt man auch unter tausenden Jazz- und Blues-Vokalistinnen wieder. Mit "New Moon Daughter" gelang ihr Mitte der 90er der weltweite Durchbruch.

Es war nach "Blue Light 'Til Dawn" von 1993 ihr zweites Album für das legendäre Jazz-Label Blue Note. Beide Platten betrachteten die Kritiker als Zwillingswerke. Jedoch lebte der Vorgänger noch von rhythmischeren, komplexeren Tönen, oftmals durchzogen von afrikanischen Einflüssen, die an Wilsons Zeit beim Kollektiv M-Base erinnern. Das legte nicht nur Wert auf strukturierte Improvisation, sondern versuchte zudem die Kreativität im Jazz neu zu beleben. Heraus kam oftmals ein zeitgenössischer Großstadt-Sound zwischen Blues, Jazz und Free Funk.

Auf "New Moon Daughter" besinnte sich Cassandra mehr auf das Erstgenannte. Ausdrucksformen nicht westlicher Kulturen wichen sparsameren, akustischeren Tönen. Auch fiel die erneut von Craig Street produzierte Scheibe weitaus fokussierter und weniger verspielt aus als "Blue Light 'Til Dawn". Im Mittelpunkt stand die Stimme der US-Amerikanerin. Manche Kritiker nannten die Musik deshalb auch Folk-Jazz. Trotzdem bereicherten Elemente aus Pop, Country und Latin-Jazz das insgesamt recht ruhige Soundbild um viel Abwechslung.

Der Albumtitel basiert auf einem alten Sprichwort der Aschanti, einer großen Ethnie in Westafrika, dass der abnehmende Mond "Leiden" bringe und der Neumond "Krankheit" heile, sagte Wilson mal gegenüber dem New York Magazine.

Daher gibt es wohl kaum eine bessere Einleitung für das Werk als eine Coverversion von "Strange Fruit", das in der Version Billie Holidays 1939 weltweit Bekanntheit erlangte. Wie der Vorgänger besteht die Platte zum größten Teil aus Neuinterpretationen bekannter oder auch ein wenig übersehener Songs aus mehr als fünfzig Jahren Musikgeschichte aus den verschiedensten Bereichen wie Blues, Folk und Jazz.

Das von Abel Meeropol geschriebene und komponierte Stück handelt von einem Körper eines Afroamerikaners, der an einem Baum hängt und somit als Sinnbild für die Lynchjustiz des Ku-Klux-Klans und Teilen der ländlichen weißen Einwohner gegen die schwarze Bevölkerung und andere Minderheiten in den US-amerikanischen Südstaaten von 1889 bis 1940 steht. Fast 4.000 Menschen kamen während dieses Zeitraumes auf grausamste Weise um. Der frühen Bürgerrechtsbewegung in den USA verlieh der Song eine Stimme im Kampf um Gleichberechtigung.

Anders als die noch traditionell jazzige Version Holidays bleibt Wilsons Neuinterpretation überwiegend dem Delta-Blues ihrer Heimat verhaftet, wenn der knorrige Kontrabass von Lonnie Plaxico und die hart angeschlagenen Gitarren-Töne von Chris Whitley, die sich beide schon an "Blue Light 'Til Dawn" beteiligten, das rhythmische Fundament liefern, über das Wilson ihre Stimme legt, die immer um zwanzig Jahre erfahrener klingt als sie ist. Dadurch fängt sie das schwere Leid der Afroamerikaner authentisch ein, während Graham Haynes an seinem Kornett unruhige Akzente setzt. Unbestreitbar macht sie die Nummer zu ihrer eigenen. Dafür musste sie allerdings zu ihren "Wurzeln zurückgehen", erzählte sie vor einigen Jahren der britischen Zeitschrift Metro.

Gut nachzuhören in "Death Letter", im Original vom Delta-Blues-Musiker Son House. Im Zusammenspiel mit der Akustik-Gitarre von Brandon Ross, der ebenso auf dem Vorgänger mitwirkte, und dem Banjo von Kevin Breit sowie einer umfangreichen Rhythmus-Sektion, vermittelt ihr Gesang etwas Rohes und Ursprüngliches. "Ich versuche, mir die Originalmusik genau anzuhören und zu verstehen, was sie außergewöhnlich macht", fügte Cassandra noch in dem Gespräch an. Das gelingt ihr ohne Zweifel exzellent.

Die dezent melancholische, abendliche Stimmung des Albums, das sie teilweise mit völlig neuen Musikern als auf dem Vorgänger in New York aufnahm, transportiert "Love Is Blindness", ursprünglich von U2, aber dann doch besser. Das durchziehen sanft gezupfte Saiten-Akkorde von Brandon Ross und Kevin Breit und sehnsüchtige Kornett-Töne, die Lawrence 'Butch' Morris spielt, die Wilsons emotionales Alt begleiten. Das mutet wegen der klaren, räumlichen Produktion so an, als wäre es direkt am Ohr des Hörers.

Jedoch schimmert immer wieder ein Stück Zuversicht auf. In "Solomon Sang" schraubt sich Wilsons Stimme immer wieder kraftvoll nach oben, unterstützt von den bluesigen Akustik-Klängen Ross' und der sphärischen Resonator-Gitarre Breits sowie den verspielten Percussions von Dougie Brown und Cyro Baptista, den man auch schon auf "Blue Light 'Til Dawn" vernahm. "Nothing lives forever, but the love that bears your name and when you stood in the temple" - dass sich die Zeilen auf König Salomo beziehen, den Erschaffer des ersten jüdischen Tempels in Jerusalem, darauf verweist schon unmissverständlich der Titel des Stücks.

Wilsons Eigenkompositionen fügen sich so in den Fluss des Werkes ein, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres. Sie lockern das Soundbild geschmackvoll auf. Bestes Beispiel: "Until" mit den geschmeidigen lateinamerikanischen Rythmen am Akkordeon des vom Vorgänger ebenfalls bekannten Tony Cedras, das temperamentvolles argentinisches Flair erzeugt. Dazu singt Cassandra sinnlich: "I want the sweetness in life with you." Wem da nicht das Herz aufgeht, der hat wohl keins.

Wunderbar fällt auch Wilsons Version von Hoagy Carmichaels "Skylark" mit zurückhaltendem Kontrabass und der weiten Pedal-Steel-Gitarre von Gib Wharton aus, das nachdenklich 'gen Sonnenuntergang führt. Noch etwas mehr Dramatik fügt sie dem Hank Williams-Klassiker "I'm So Lonesome I Could Cry" hinzu, während Kevin Breit mit einer irischen Bouzouki tänzerische Akzente setzt.

Da bildet die Neuinterpretation der US-Amerikanerin von Neil Youngs "Harvest Moon", die "New Moon Daughter" beschließt, nur das Sahnehäubchen eines an großartigen Momenten nicht gerade armen Albums. Wenn ausgehend vom Zirpen der Grillen die verhaltenen Akustik-Gitarren-Klänge von Ross, das naturbetonte Percussion-Spiel von Baptista und ihre milde Stimme feinfühlig die Szenerie des Textes untermalen, bleibt nur noch Gänsehaut zurück. Der handelt nämlich von zwei Menschen, die sich unter dem Erntemond, der den Herbst des Lebens einläutet, noch einmal lieben lernen.

Ähnlich behutsam ging Wilson rund vier Jahre später auf "Traveling Miles mit dem Material von Miles Davis, das sie ebenso um eigene Nummern ergänzte, das allerdings wieder ein wenig experimentierfreudiger, bisweilen lebhafter ausfiel. Es folgten noch viele weitere Alben, mit denen sie sich zwar größtenteils treu blieb, die aber auch eine kontinuierliche Weiterentwicklung selten vermissen ließen.

Trotzdem traf sie den Nerv eines großen Publikums nie mehr so wie mit "New Moon Daughter", für das sie 1996 sogar den Grammy als beste Jazz-Sängerin erhielt. Aber warum? Lag es an dem breit gefächerten Repertoire und der stilistischen Vielfalt, mit der sie die Grenzen im Jazz allmählich verschob? Gut vorstellbar. Dennoch könnte es genauso gut die Zeitlosigkeit gewesen sein, was den Klang, den Ausdruck und die Songqualität betrifft.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Strange Fruit
  2. 2. Love Is Blindness
  3. 3. Solomon Sang
  4. 4. Death Letter
  5. 5. Skylark
  6. 6. Find Him
  7. 7. I'm So Lonesome I Could Cry
  8. 8. Last Train To Clarksville
  9. 9. Until
  10. 10. A Little Warm Death
  11. 11. Memphis
  12. 12. Harvest Moon

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