laut.de-Kritik
Drama, Baby! Ein narrativer Balladenstrauß.
Review von Ingo ScheelSo ist das dann wohl, wenn eine weitere Meilenstein-Runde eingeläutet wird, der Name Cher in der Liste auftaucht und man spontan 'Hier' schreit, just in dem Moment, als die eigene "Zuletzt angesehen"-Linklist auf EBay die Bilder diverser Cher-T-Shirts aufweist. Auf dem Plattenteller dreht gerade "Love Hurts" die dritte oder vierte Runde, "Save Up All Your Tears" und "Love And Understanding" vorneweg. Ein Meilenstein-Anwärter? Durchaus, wäre da nicht der olle "Shoop Shoop Song" als obsoleter Closer.
Ähnliche, auf hohem Niveau gemischte Tüten bieten "Cher" (1987) mit "We All Sleep Alone", "Heart Of Stone" (1989) mit dem epochalen "If I Could Turn Back Time" oder "It's A Man's World" (1995) mit ihrer superben Version von "Walking In Memphis". Alles toll, aber immer sind da so ein paar Plombenzieher, die beim Gesamteindruck auf den Nerv drücken.
Den 90s-Ballast und 80s-Pomp jedoch beiseite geschoben, kommt zum Einstieg in die Seventies schließlich "Gypsys, Tramps & Thieves" zum Vorschein. Nach einigen kommerziellen Durchhängern hat Sonny als Produzent zwischenzeitlich ausgedient. Mit Snuff Garrett sitzt ein alter Hase an den Reglern, Namen wie die Monkees, Leon Russell und Sonny Curtis ("I Fought The Law") zieren seine Vita.
Auf "Gypsys, Tramps & Thieves", zunächst als "Chér" veröffentlicht, später aufgrund der erfolgreichen Single umbenannt, bündelt Garrett die vielen Stränge aus Chers schillerndem Sixties-Universum und verpasst ihr einen Sound, der das Kunststück vollbringt, ebenso in einen der großen Show-Säle von Las Vegas zu passen wie auf die rollende Truckbühne einer durch die Staaten ziehenden Musikantentruppe.
"The Way Of Love" wurde im französischen Original bereits 1960 für Sängerin Frédérica geschrieben. Kaum ein Zufall, dass die Nummer für den ESC gedacht war, unverständlich hingegen dass diese Preziose damals den Cut nicht schaffte: Cher ist damit zum Einstieg der Platte direkt auf Betriebstemperatur, bietet großes Drama mit Orchester-Tutti, gehämmertem Piano und ausgedehnten Schlagzeugwirbeln.
Auf dem Fuße folgt das Titelstück, ein wildes Zirkuspferd von einem Song, mit bunten Troddeln und reizvollem Wechsel von Trab zu Galopp und zurück. "He'll Never Know" croont zwischen Bobbi Martin und spätem Casino-Elvis, in der Strophe so leicht wie Heil-gelandet-Musik an Bord einer Pan-Am-Maschine, im Chorus von so lebensresümierender Weite, man würde auch dann noch seufzend empathisieren, würde Cher hier lediglich "Lorem ipsum dolor sit amet" singen.
"Fire And Rain" hatte James Taylor erst im Jahr zuvor veröffentlicht, Cher steht diese Landstraßen-Retrospektive bestens zu Gesicht. Den Schmacht der Songs ergänzt sie hier mit staubigem Blues-Unterton. Mittig gibt es weiteres Ohrenfutter aus der wunderbaren Welt des FM-Radios. "When You Find Out Where You Goin' Let Me Know" schunkelt auf dem Grat zwischen Gilbert O'Sullivan und den Carpenters. "He Ain't Heavy, He's My Brother": ohnehin ein Universalschlüssel von einem Song, der unablässig gecovert, re-interpretiert, neu betrachtet gehört.
"I Hate To Sleep Alone" mit "Needles And Pins"-Glockenspiel nimmt locker anderthalb Dekaden zu früh bereits die Cher der "Wetten, dass..?"-Inzidenten und Kanonenrohr-Ritte vorweg: Jedem Tief folgt ein Hoch, auch nach einer noch so dunklen Nacht geht die Sonne wieder auf und dort, wo eben noch der Typ poofte, der sich wortlos vom Acker gemacht hat, erscheint das Bett ein paar Tage später schon wieder viel zu groß.
"I'm In The Middle" überbrückt solide, das wunderbare "Touch And Go" klingt nach jenem fruchtbaren Boden, auf dem Jahre später auch "Love And Understanding" zur Blüte reift, und jener "One Honest Man", um den es im letzten Song geht, jener universelle Protagonist im Cher-Katalog? Hätte Cherilyn Sarkisian ein paar mehr von diesen Exemplaren getroffen, womöglich hätte es eine Platte wie diese – und diverse danach – nie gegeben.
Also, steigen wir mit ein in den Zirkuswagen, setzen wir uns zu Cher auf den Bock und lauschen wir ihren Geschichten, in denen es immer einen Morgen danach, einen neuen Tag, eine neue Straße, einen neuen Song gibt. Vom Wunsch, die Zeit zurückdrehen zu können, wird sie später singen. Gut möglich, dass sie dann hier, anno 1971, Halt machen würde.
... und jetzt wird endlich das Cher-T-Shirt gekauft.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
2 Kommentare mit einer Antwort
Ist ein verdienter Meilenstein von Cher alleine auch wegen der schönen Stimme.
besonders mit Autotune
sorry, die Frau ist spätestens seit "Groundhog's Day" unhörbar....