18. November 2008
"Dir erzähl' ich die wahre Geschichte"
Interview geführt von Dani FrommRap-Gesetzgeber Curse plauscht am Telefon über sein aktuelles Album, seine ungebrochene Begeisterung für Hip Hop und Marius Müller-Westernhagen, die Verantwortung von Gangster-Rappern und die dringende Notwendigkeit, Intelligenz als Coolness zu vermarkten.Mehrfach nahm sich Curse in den vergangenen Jahren Zeit für uns. Zwei schöne Gespräche verscharrte ich bereits auf meinem umfangreichen Friedhof der nicht abgetippten Interviews. Kein Wunder also, wenn man am Telefon mit den Worten begrüßt wird: "Ah, mit dir sprech' ich immer gern. Dir erzähl' ich die wahre Geschichte. Es kommt eh nie raus."
Ich muss an meinem Ruf arbeiten. Curse erweist sich nichtsdestotrotz erneut als angenehm mitteilsames Gegenüber. Da das Gespräch am Vorabend der Veröffentlichung seines Albums stattfindet, springt einen das Thema "Freiheit" nahezu an.
Wie kam es zur Zusammenarbeit mit Marius Müller-Westernhagen?
Mein Album hieß von Anfang an "Freiheit". Das hatte zuerst einmal nichts mit dem Song von Westernhagen zu tun, sondern es ging um meine ganz persönliche Definition. Zu dem Zeitpunkt war dieser Freiheitsbegriff eine Überschrift in meinem Leben. Ich bin umgezogen. Ich habe mich von alten Strukturen getrennt, neue angefangen. Ich bin ins kalte Wasser gesprungen, habe in vieler Hinsicht den inneren Schweinehund überwunden. Ganz private Sachen.
Mir war wichtig, mich auch musikalisch von den Grenzen zu lösen, die man sich selber setzt. Als ich dann schon ein Dreivierteljahr an dem Album gearbeitet hatte, kam mir ganz konkret die Idee, die Live-Version von Westernhagens "Freiheit" zu samplen. Ich saß abends im Studio und hab' das Ding rausgekramt, weil ich mir dachte: "Klar, ist natürlich naheliegend."
Am Anfang dachte ich, ich mach' ein Intro oder ein Outro draus, lass' das irgendwo reinfaden. Mein Hauptgedanke war eigentlich: Live-Show. Wie ist das, wenn ich beim Splash! rauskomme und 20.000 Leute singen das Ding?
Dann hab' ich es an ein paar Producer verschickt. Ein paar Tage später kam die erste Layout-Version zurück. Die hat mich umgepustet, die fand ich grandios. Hab' das Ding einige Wochen oder Monate in der Schublade verschwinden lassen, weil ich dachte: "Okay, vielleicht ein bisschen zu krass. Westernhagen, 'Freiheit' ... wer weiß."
Wenn ich mal kurz zwischenfragen darf: In welcher Beziehung standest du vorher zu Westernhagen? Warst du sowieso ein Fan oder war das eher ... so naja?
Ich hab' den total gefeiert, früher. Auf jeden Fall. Ich hab' sein Album, auf dem "Sexy" drauf war, rauf- und runtergehört. Ich hatte so einen roten Sony-Walkman, da lief die Kassette auf Dauerlauf. Wir haben ein paar Hundert Meter entfernt von einem Platz gewohnt. Im Oktober oder November war da immer Kirmes. Ich saß zu Hause und durfte eigentlich nicht raus, weil es schon zu spät war. Aber ich hab' zu meiner Mutter gesagt "Wenn 'Sexy' von Westernhagen kommt, dann will ich hin."
Da hab' ich original zu Hause gesessen und auf die Mucke da gehört. "Woah, jetzt kommts!" Ich in meine Schuhe reingejumpt, die Straße runtergerannt, hab' mich dann da drei Minuten zwanzig an den Autoscooter gestellt, und dann bin ich wieder nach Hause gelaufen. Ohne Scheiß, ich war da echt am Start.
Und "Freiheit" war natürlich auch ein krasses Ding. Ich habe noch ein altes Fotoalbum mit Bildern von der Wende. Danach war ich in Berlin und habe an der Mauer rumgespechtet. In mein Fotoalbum habe ich damals sogar Textzeilen von "Freiheit" reingeschrieben.
Du warst Fan.
Ich war am Start, auf jeden Fall. In den letzten Jahren habe ich die Sachen von Marius gar nicht mehr verfolgt. Das Letzte, das ich noch aktiv mitbekommen habe, war "Ich Bin Wieder Hier". Das fand ich auch Hammer, da fand ich auch das Video supernice. Danach hab' ich eigentlich nicht mehr viel mitbekommen.
Natürlich haben sich die Medien in den letzten Jahren auch über Westernhagen hergemacht. Es gab ganz wenig Leute, die nicht auf den "Wir finden Westernhagen jetzt mal komisch"-Wagen aufgesprungen sind. Deswegen hatte ich natürlich auch das Bild, der Typ sei bestimmt total schwierig. Deswegen habe ich am Anfang auch so gezögert, bei ihm überhaupt anzufragen.
Am Ende des Tages hat sich das alles nicht bewahrheitet. Ich habe ihm die Sachen geschickt. Er kannte Curse nicht, wusste nicht, was ich vorher gemacht habe. Er hat einfach nur den Song gehört und die Texte gelesen. Aufgrund der Musik und des Textes hat er gesagt: "Find' ich Hammer, will ich unbedingt machen, hab' ich Riesenbock drauf."
Eines Tages auf dem Weg zum Bäcker rief mich dann Herr Marius Müller Westernhagen an und meinte: "Ja, guten Tag, Müller-Westernhagen hier. Ich find' das ganz großes Kino, was du gemacht hast und würd' das gerne supporten." Dann hat er mir im ersten Gespräch von sich aus angeboten: "Du, ich will mich ja nicht aufdrängen." Originalzitat!
"Ich will mich ja nicht aufdrängen! Also, wenn du nur das Sample benutzen möchtest, is' klar, is' ja dein Song, mach damit was du möchtest. Aber wenn dir das was bringt, wenn das für dich was wäre, dann würd' ich dieses 'ist das Einzige, was zählt' nochmal neu einsingen. Zum Beispiel, oder die Bridge oder sowas."
Und ich so: "Woah, krass! Auf jeden Fall! Irre! Toll." Und dann meinte er auch noch: "Ich weiß nicht, ob das was bringt, aber ich kann ja mal kucken, ob ich euch die Masterbänder besorgen kann." Er war von Anfang an total offen, herzlich und ... gebend mit seinem Song. Auch konstruktiv, hat nicht gegeizt mit seinen Sachen. Im Gegenteil, er hat sogar noch angeboten: "Ich kann dies möglich machen und das ..." Das war echt phantastisch.
Face to face getroffen haben wir uns dann beim Videodreh. Da hatten wir aber schon zigmal miteinander telefoniert und waren uns schon ein bisschen bekannt. Beim Videodreh haben wir uns dann zum ersten Mal gesehen. Das war super. Sehr herzlich, offen, überhaupt nicht prätentiös, überhaupt nicht "Ich bin hier der Star, warum ist mein Wasser nicht kalt" oder irgendso'n Scheiß. Völlig easy, entspannt. Wenn er nicht vor der Kamera stand, hat er gechillt, was getrunken und mit irgendwelchen Leuten am Set Scherze gemacht. Es war wirklich sehr, sehr nice. Sehr, sehr entspannt.
Wir waren danach noch gemeinsam essen und haben einen derbe lustigen Abend gehabt. Als ich das letzte Mal in Hamburg war, hab' ich ihn besucht. Das Verhältnis ist sehr, sehr, sehr herzlich und freundlich. Er hat auch anderes von mir gelesen, mich dann angerufen und gesagt: "Ey, ich hab' hier den Text von dir gelesen, ich find' das obergeil". Dann haben wir angefangen, uns über Literatur zu unterhalten.
Meine Erfahrung mit ihm ist, dass er wirklich sehr herzlich ist und vor allem, dass für ihn Kunst zählt. Große Kunst. Ich glaube, das ist der Schlüssel bei ihm. Wenn er irgendwas künstlerisch geil findet, dann macht es klick.
"Die Fans müssen intelligenten Rap fordern."
Die anderen beteiligten Kollegen, Patrice, Clueso ... Das sind ja die üblichen Verdächtigen.Klar. Das sind Leute, die mir musikalisch und menschlich nahe stehen. Mit Patrice besteht Studiogemeinschaft. Mit Clueso habe ich schon mehrere Aktionen zusammen gemacht. Wir haben Geheimkonzerte gespielt. Ich werde mit ihm gemeinsam bei seinem Konzert im Palladium auftreten, vielleicht auch in München, demnächst. Wir haben schon öfter zusammen gejammt. Wenn er in Köln ist, kommt er zu Besuch, pennt auch manchmal bei mir. Das ist schon ein freundschaftliches Verhältnis.
Auch Nneka schätze ich sehr und finde sie grandios. Mit ihr telefoniere ich öfters, wir sehen uns, das ist cool. Aber mit Silbermond ist es mittlerweile eigentlich auch so. [Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit gibts unter anderem auf laut.tv zu sehen.] Es ist natürlich super, wenn es musikalisch funktioniert. Aber damit etwas wirklich gut wird, muss der Vibe komplett stimmen, menschlich und musikalisch.
Am meisten war ich auf den Song mit Clueso gespannt.
Stimmt. Der ist super geworden, find' ich. Der war so ein bisschen das Sorgenkind.
Warum das denn?
Clueso wollte das Ding noch mal neu einsingen und einspielen, weil ihm eine Spur nicht gefallen hat. Dann war er aber so superbusy, dass er ewig nicht dazu gekommen ist. Dann habe ich mich 'ne ganze Zeit lang mit dem Text ziemlich schwer getan. Ich hatte eigentlich einen komplett anderen Text geschrieben gehabt und in letzter Sekunde erst gesagt: "Nee, ich schreib jetzt den." Ein aktuelles Ereignis in meinem Bekanntenkreis hat zu dem jetzigen Text geführt.
Im Studio gings dann gerade weiter: Wir haben den Song gemixt und irgendwann, als wir fast fertig waren, gesagt: "Jetzt machen wir Pause, gehen raus und hören wir das Ding mal an. Dann gehen wir mal Abendessen und dann machen wir ihn fertig." Wir kamen nach dem Abendessen zurück und wollten das Arrangement wieder öffnen - und der Computer hatte den kompletten Song geschrottet.
Rechner sind scheiße.
Die ganzen Files, die Musik und die Recordings, alles noch da - aber der komplette Mix war geschrottet. Also alles, das wir an dem Song gemacht hatten, war weg. Ey, und wir: Nochmal angefangen. Nochmal rangesetzt. Nochmal gemacht, und hast du nicht gesehen ... Und der Scheißcomputer hat das Ding NOCHMAL geschrottet! Aber diesmal waren wir dann zumindest bei einer Fassung angekommen, die zu 97 Prozent fertig war. Damit kann man ja gut leben.
Dein Album macht ja deutlich, dass du keinerlei Interesse an einer Positionierung in der deutschen Rap-Szene hast. Interessiert dich die ganze Szene nicht mehr?
Nein, das würde ich so nicht sagen. Es interessiert mich durchaus, was passiert. Ich hör' mir auch die Songs von den wichtigen Leuten an, und wenn ihr neues Video läuft, schalte ich bestimmt nicht weg. Aber es ist jetzt nicht so, dass ich mich zu Hause hinsetze und mir derbe für die nächsten drei Wochen mal alle neuen Releases gebe. Wahnsinnig viel Zeug langweilt sehr, weil es oftmals heute 'ne Kopie von der Kopie ist, alles. Es gibt aber einige junge Typen, mit denen ich teilweise auch auf dem Album zusammengearbeitet habe. Zum Beispiel Casper oder F.R., Leute, die ich sehr interessant finde und die sehr interessante Sachen machen.
Ich interessier' mich da schon dafür. Aber, wie du gerade gesagt hast, ich hab kein wahnsinnig großes Interesse mehr daran, auf alles Bezug nehmen zu müssen, dauernd Stellung zu irgendwelchen zeitaktuellen Entwicklungen oder Geschehnissen zu beziehen. Deswegen mag ich Fragen nicht, die mir oft gestellt werden wie: "Was hältst'n du vom neuen Song von bla." Ich denke immer: "Jetzt fragst du mich das, und wenn jemand in einem Jahr das Interview liest, interessiert das schon gar nicht mehr. Dann ist schon der nächste dran."
Früher haben sie mich alle zu Samy gefragt. Dann haben sie mich alle zu Eko gefragt. Dann haben sie mich alle zu Sido gefragt, oder zu Aggro. Dann haben sie mich alle zu Bushido gefragt. Am Ende des Tages ist das für mich alles nicht mehr so interessant, weil die Musik, die ich zu Hause höre, die ich selbst konsumiere, die ist halt oft 'ne andere.
Zum Beispiel?
Ich muss ganz ehrlich sagen, ich hab' mir das Clueso-Album intensiver angehört als manche Deutschrap-Platte. Oder das Nneka-Album, das ich hammer finde. Was ich gerade sehr gern höre, ist das neue Album von Lykke Li. MGMT find' ich geil. Ich hab' mir von den Arctic Monkeys den kompletten Katalog geholt. Ich bin zur Zeit ziemlich breit gefächert unterwegs. Am liebsten höre ich natürlich, was noch irgendwie mit Hip Hop, Soul und so weiter zu tun hat. Ich bin sehr gespannt auf das neue Kanye-Album, sehr gespannt. Madlib macht 'n neues Album. Das ist jetzt sehr underground und backpack, aber es interessiert mich halt trotzdem. Solche Sachen ... Yeah, da streck' ich noch meine Fühler aus.
Also schon immer noch heiß drauf?
Na, klar! Na, klar! Ey! Hip Hop ist so ein phantastisches Ding, da gibts so viel geile Sachen, die man entdecken kann. Ich find' zum Beispiel auch diesen Izza Kizza interessant. Ich weiß nicht, ob du den kennst?
Noch nie gehört. Mach mich schlau.
So'n Typ aus Atlanta. Ein krasser Lyricist, der vom Humor eher so in die Eminem-Richtung geht, von der Stimme und vom Flow her aber nicht so comic-mäßig kommt, sondern ernsthafter. Der macht abgefahrenes Zeug, auch was seine Produktionen betrifft. Der hat mit Timbaland und Missy gearbeitet. Macht so Zeug, das eher an Grime oder Elektro erinnert. Seine bisherigen Videos sind alle aus "Family Guy"-Episoden zusammengeschnitten. Schreibt sich, wie man spricht: [buchstabiert] I-Z-Z-A K-I-Z-Z-A. Echt fresh, was der Typ macht. Es gibt viele interessante Leute.
Das Schlimme ist, dass man von den interessanten Leuten ja kaum was mitbekommt. Man sieht ja immer nur das Gleiche.
Stimmt, man sieht zur Zeit immer nur das Gleiche. Aber hey, dafür mach' ich ja ein Album. Natürlich nicht dafür, aber ich trag' schon meinen aktiven Teil dazu bei, dass man hoffentlich demnächst auch mal was anderes sieht.
Ja, dir kann man den Vorwurf schlecht machen. Das ist ja ein Schuh, den sich die Medien, den wir uns selbst anziehen müssen.
Das ist richtig, ja. Ich hatte heute erst einen Chat [bei MTV, d. Red.]. Da fragten die Leute: "Welche Chance siehst du in der Zukunft für intelligenten Rap in Deutschland?" Ich hab' geantwortet: "Es liegt nicht nur daran, dass es keine intelligenten Leute gibt, sondern auch daran, dass die Fans das nicht fordern." Wenn 100.000 Leute hingehen und das neue Casper-Album kaufen, dann gewinnt der Typ ruckzuck 'nen Echo. Dann läuft ruckzuck sein Video auf MTV.
"Hip Hop kann dir unglaublich viel Würde geben."
Gehen wir doch mal zu diesem "Vergessene Kinder"-Projekt. Da hast du einen Song mit Max Herre beigesteuert, "Goldene Zeiten". Der ist nicht neu. Warum gerade den?Ich bin angefragt worden und hab' gesagt, ich würde supergern was machen, allerdings war das exakt zu dem Zeitpunkt, als ich mein Album gemixt und gemastert habe. Das heißt, ich hatte leider überhaupt keine Zeit, einen Song zu machen. Von den Songs, die ich - in Anführungsstrichen - "noch hatte", die nicht aufs Album gekommen sind, hat keiner zum Thema gepasst. Ich wollte ihnen ja nicht einen Song übers Essen oder so anbieten, einfach nur, damit mein Name mit draufsteht.
Also hab' ich gesagt: "Jungs, sucht euch jeglichen Track aus meinem Backkatalog aus. Meinetwegen auch irgendwelche obskuren B-Seiten oder sowas. Wir können was remixen, wir können halt leider keinen neuen Track machen. Was haltet ihr denn zum Beispiel von 'Goldene Zeiten'?" In dem Text werden auch Sachen angesprochen, die sehr gut zum Thema passen. Deswegen habe ich von mir aus vorgeschlagen: "Was haltet ihr denn davon?" Und dann kam die Antwort zurück: "Ey, 'Goldene Zeiten', Hammersong. So machen wir's."
Wie stehst du zu dem ganzen Projekt?
Was ich darüber weiß, find' ich sehr positiv und vor allem sehr erschütternd. Es gibt dieses Buch ...
Es gibt schon zwei Bücher.
Zwei Bücher? Okay. Dann gibt es den Soundtrack dazu. Sehr interessante Sache, deswegen hab' ich auch Bock drauf. Ich werde sehr oft für verschiedene Charity-Projekte abgefragt, und oftmals sind die Sachen auch ... ich sag jetzt mal ... halbseiden. Aber dieses Projekt ist offiziell, das hat Hand und Fuß.
Die Einnahmen fließen in Hip Hop-Workshops, in denen die Kids zum Selbermachen animiert und in denen ihnen Perspektiven aufgezeigt werden sollen, die sie bisher gar nicht hatten. Glaubst du, dass Hip Hop eine Perspektive bieten kann?
Es kommt darauf an, unter welchem Aspekt man das sieht. Wenn du auf so 'nen Hip Hop-Workshop gehst und denkst: "So, jetzt komm' ich von der Straße runter, weil jetzt werd' ich Rapper und dann verdien' ich Riesengeld", dann ist das eine Illusion. Genauso mit Graffiti oder Breakdance oder DJing. Was es aber kann: Es kann dir eine Perspektive geben, einen Lebensinhalt.
Das ist der Punkt, um den es oftmals geht: Dass sich die Kids perspektivenlos fühlen und sagen: "Das Leben ist abgefuckt und ich hab' nix, wofür es sich lohnt" oder: "Ich bin den ganzen Tag gelangweilt." Wenn man den ganzen Tag gelangweilt ist, fängt man irgendwann an, Scheiße zu bauen und auf dumme Gedanken zu kommen.
Wenn man aber etwas hat, an dem man sich festhalten kann, wo man seine Energie, seine Zeit und seine Kreativität investieren kann, und wo man dann auch Bestätigung bekommt, wo man ein Ergebnis in der Hand hält, nicht nur immer die Scheißnoten in der Schule, wo andere Leute sagen: "Boah, geiler Track!" oder: "Geiles Piece!"
Das ist für das Selbstwertgefühl natürlich phantastisch, weil das etwas ist, das aus dir kommt. Etwas, bei dem egal ist, ob du schwarz, weiß, grün, blau, arm, reich, was auch immer bist. Weil du etwas geschaffen hast, das aus dir kommt. Darauf allein kannst du schon stolz sein, und dann kommen auch noch andere Leute und sagen: "Boah, dicker Track!" Hip Hop kann dir unglaublich viel Identität und unglaublich viel Würde geben. Das ist die Perspektive, die Hip Hop für mich bietet.
Mit der Würde ist es aber manchmal gar nicht weit her. Ich habe mit Wolfgang Büscher, dem Pressesprecher der ARCHE, gesprochen. Der erzählte, 95% seiner Kinder hörten Hip Hop. Allerdings fahren die gerade auf Gangster- und Pornorap ab. Weil ihnen die entsprechende Sozialisation fehlt, raffen sie nicht, dass es sich da um Kunstfiguren handelt, um Show - und um Geldmacherei. Sie nehmen also die Texte mit nach Hause und leben sie nach. Insofern birgt Hip Hop ja durchaus auch eine Gefährdung.
Na, klar. Pornofilm ist erst ab 18, ja? Aber drüber reden, über Arschficken mit Anlauf, das ist schon ab 12. Das ist natürlich eine Gefährdung, wie jegliche Art von verherrlichender Darstellung von Gewalt eine Gefährdung ist. Es muss noch nicht einmal verherrlichend sein. Die Darstellung von Gewalt überhaupt ist schon schwierig, weil viele Kinder das gar nicht differenzieren können.
Die Gangsterrapper sind die Helden von den Kids, weil die so derbe cool sind. Die kriegen alle Weiber, die sind böse, die sind im Fernsehen, die haben Geld und Macht - boah! Was für uns früher Colt Sievers war, sind für die Kids heute Gangsterrapper. Wenn der Gangsterrapper sich dann hinstellt und den Kids sagt: "Gangbang, Gangbang, Gangbang!", dann gehen die nach Hause und sagen: "Das erstrebenswerte Ziel ist Gangbang."
Ey, ich sag' das nicht als kultursoziologischer Pädagogenmensch, ich sag' das aus eigener Erfahrung. Ich habe früher 2 Live Crew gehört. Face down, ass up, that's the way we like to fuck und Bitches ain't nuthing but bla und Suck my dick und all so'n Scheiß. Ich fand das früher cool. Mein Problem war nur: Ich war der einzige, der das cool fand. Weißte?
Heute finden das die Mädchen, die 12-jährigen Mädchen in der Klasse, auch cool. Die finden cool, wenn einer sagt "Gangbang" und "Fünf auf einmal" und so. Das ist deren Bild von einer coolen Frau, die so ein cooler Rapper haben will. Deren Frauenbild: die geile Bitch mit dem geilen Arsch, die im Club tanzt, die sexy Mami, yeah Gangbang! Das nehmen die für bare Münze.
Ich hab' von Leuten gehört, die mit Kids arbeiten. Die erzählen dir Storys, da stehen dir die Haare zu Berge. da fragt ein Mädchen: "Bin ich hässlich?" - "Wieso solltest du hässlich sein?" - "Ja, ich hatte noch keinen Sex." - "Du bist DREIZEHN!?" Ein anderes Mädchen erzählte von seinem ersten Mal: "Ja, mein erstes Mal war mit meinem Freund und seinen Kumpels und wir waren da und da. Und ich hab' erst mit meinem Freund rumgemacht und dann hat der gesagt blabla und dann hab ich das halt so ... mein erstes Mal war so mit vier Jungs."
Wenn man dann nachfragt: "Ey, hallo? War das denn cool? War das schön für dich?", dann kommt: "Ja weiß nicht, aber mein Freund, und ich lieb' den halt, und der hat gesagt, mit seinen Kumpels, Gangbang so, is' halt cool, Gangbang." Dein erstes Mal! Deine Entjungferung! Als zwölfjähriges Mädchen, ist beim Gangbang mit 'n paar Vierzehnjährigen!
Das ist doch abstrus! Das ist total abstrus. Dann haben sie den Typen gefragt: "Sag mal, findest du das cool?" - "Ja, klar, Mann, Alter, ist doch richtig geil, Gangbang, dies das." - "Mal ganz ehrlich: Du küsst deine Freundin, nachdem die gerade dreien von deinen Kumpels einen geblasen hat. Äh, hast du da schon mal drüber nachgedacht?" Und er dann: "Ja, stimmt eigentlich. Irgendwie ist das eklig. So hab ich das noch gar nicht ... boah, ja. Scheiße. Ey, boah, eklig, stimmt."
Weißt du, wie ich meine. Ey, es ist Wahnsinn, Wahnsinn, Wahn-sinn. Wahnsinnig unreflektiert. Und jeder Rapper, der dir sagt: "Ich hab' da keine Verantwortung" und bla: Das ist Bullshit.
Ich will ja jetzt nicht wieder mit der ewigen Frage nach der Verantwortung von Künstlern kommen ...
Nein, das sag' ich ja gerade. Jeder Rapper, der dir sagt, er habe keine Verantwortung: Bullshit! Natürlich hast du Verantwortung! Sobald du dein Haus verlässt, hast du Verantwortung. Zum Beispiel dafür, dass du mit dem Auto nicht irgendwelche Typen anfährst. Du kannst nicht irgendwas machen und sagen: "Ja, da kann ich aber nix für." Das geht nicht, das ist Bullshit.
Du kannst es nicht jedem Recht machen und du kannst nicht hingehen und dich zensieren, weil irgendjemand irgendetwas nicht gut finden könnte. Das ist ein ganz anderes Thema. Aber du musst dir darüber schon im Klaren sein, dass Zwölfjährige deine Mucke hören und für bare Münze nehmen. Darüber musst du dir im Klaren sein. Du musst das mit dir selber ausmachen. Du musst zu dir selber ehrlich sein und sagen: "Ja, weiß ich und ich komm' damit klar."
Was kann man denn tun, um solcher Verwahrlosung zu begegnen? Hat man als Künstler überhaupt irgendeine Chance?
Es gibt tausend Sachen, die man machen kann, um dem zu begegnen. Tausend Sachen. Aber die müssen alle zusammen funktionieren. Es fängt im Elternhaus an. Die Eltern müssen sich mehr um die Kinder kümmern. Aber damit die Eltern sich mehr um die Kinder kümmern können, brauchen wir bessere soziale Netze. Wir brauchen bessere soziale Einrichtungen. Wir brauchen mehr Möglichkeiten, dass Eltern Geld verdienen und gleichzeitig für ihre Kinder da sein können. Wir brauche Anreize dafür, dass Leute sagen: "Ja, ich bleib' zu Hause und ich kümmer' mich um meine Kinder."
Das Problem ist ja, dass heutzutage Leute Kinder kriegen, die selber schon in einer beschissenen Situation sind. Ich glaube, wenn du zu Hause Eltern, vielleicht auch Geschwister und Freunde und große Brüder und so weiter, die mit dir diese Texte reflektieren oder die Filme, die du kuckst, mit Schwarzenegger ... oder Vin Diesel ist das ja heute ... Dann ist die Gefahr nicht so groß, dass du das für bare Münze nimmst und dass du verwilderst. Dann wird dein Input irgendwie gefiltert und du kriegst noch 'ne andere Meinung. Das ist derbe wichtig.
Da kommen so viele Sachen zusammen. Das ist unglaublich schwierig, ich hab' da keine Patentlösung. Ich glaube, man müsste einfach Hunderte von Milliarden von Euro in derbe viele verschiedene soziale Einrichtungen investieren und Familien geben. Man müsste Perspektiven schaffen, Kindern und Jugendlichen und auch den Eltern Beschäftigungen geben.
Dann muss man den Leuten durch Marketing und Werbung einhämmern, dass reflektiert sein cool ist. Dass Bildung cool ist. Dass es cool ist, zu wissen, was in der Welt passiert. Dass es cool ist, auch mal zu sagen: "Moment mal, da denk' ich jetzt aber mal drüber nach." Das läuft aber nur, wenn du besser und aggressiver Intelligenz als Coolness vermarktest, als die anderen Leute pausenlos Dummheit als Coolness vermarkten.
Das ist doch auch mal was, das man sich von den Rappern oder von der Popindustrie abkucken kann: Marketing! Massive Werbung! Das checken die Leute. Wenn du den Leuten immer wieder promo-marketingmäßig eindübelst: "Ey! Intelligenz ist sexy!" Ja? Dann checken die das irgendwann auch. Wenn du denen aber die ganze Zeit eindübelst, Dummsein sei sexy, dann checken sie das.
Ich schweife jetzt vom Thema ab, aber in Ghana gibt's so ein Projekt, habe ich drüber gelesen, find' ich superinteressant: Da hat man rausgefunden, dass wahnsinnig viele Magen-Darm-Erkrankungen, die sich ganz leicht behandeln lassen, in Afrika zu Todesfällen führen. Ganz viele Menschen werden sehr krank und sterben. Die Hauptursache ist: Die waschen sich die Hände nicht vor dem Essen, sondern danach.
Dann haben die sich überlegt: Wenn man die Leute dazu kriegen könnte, sich vor dem Essen die Hände zu waschen, wäre das phantastisch. Sie haben sich also mit den besten Marketing-Typen zusammen gesetzt und ein Konzept entwickelt. Und zwar wollten sie nicht propagieren, dass es ganz wichtig ist, sich die Hände vorm Essen zu waschen. Sondern man sagte sich: "Wir müssen mit dem Ekel der Leute spielen." Ihnen zeigen, wie viele Bakterien sie mitnehmen und wie eklig das eigentlich ist, wenn sie sich die Hände nach der Toilette, die in dieser Kultur als ganz reiner, sauberer Ort gilt, nicht waschen.
Dann haben sie Leute auf der Toilette gezeigt und bildlich dargestellt, wie sich die ganzen Bakterien an sie dranheften und wie die verkleben und wie die Bakterien dann auf andere Menschen übertragen werden. Haben das so richtig eklig gemacht. Und dann haben sie massive Werbekampagnen im staatlichen Fernsehen gefahren, in denen sie nicht etwa gesagt haben: "So und so viele Leute sterben wegen Durchfallkrankheiten", blablabla. Sie haben einfach nur gesagt: "Motherfucker, this shit is nasty!" Das hat so viel gebracht. Das bringt 'ne Menge. Du musst Positiv-Marketing machen.
Das war ja jetzt nicht gerade ein Beispiel für Positiv-Marketing.
Naja, aber es war ein Beispiel dafür, eine positive Sache zu promoten. Was die da eigentlich promotet haben, ist Hygiene. Aber sie haben es halt auf eine Art und Weise promotet, die bei den Leuten einschlägt. Okay, sie schüren Ekel und Ängste, aber das Ergebnis ist positiv.
Intelligenz vermarkten, das klingt nach einer so einleuchtenden, einfachen Idee. Warum macht es keiner? Wie könnte man das angehen? Und wer?
Tja. Es gibt ja manche Musiker und manche Schriftsteller und manche Leute, die sich hinstellen und cool sind, und dabei auch irgendwie smart. Ich kenn' da mehrere. Aber das ist halt einfach ... Ey. Wenn man die Probleme wirklich so angehen will, dann muss man irgendwie, dann müsste man sowas an die große Glocke hängen. Anstatt siebenhundert Milliarden auszugeben, um irgendwelche absolut verantwortungslosen Finanztypen aus der Scheiße zu ziehen, könnte man mal siebenhundert Milliarden in sowas investieren. Nachhaltig dafür sorgen, dass bestimmte Dinge gar nicht mehr passieren.
Revolution?
Bravo. Es läuft 'ne Menge schief. Aber man kann halt nur seinen kleinen Teil dazu beitragen.
Dazu gehören in deinem Fall nun erst mal das Album und die dazugehörige Tour. Was hast du geplant?
Ich bin mit Band, mit dem kompletten Set-Up unterwegs. Drums, Keys, Bass und Gitarre, Background-Gesang. Wir werden sehr interessante Leute für Gesang dabei haben. Der männliche Part wird Samir sein. Der weibliche Part ist noch nicht hundertprozentig klar, aber ich habe Mariama aus Köln im Visier, eine Sängerin aus dem Dunstkreis von Patrice und Bantu. Auf jeden Fall ist die super. Sehr, sehr interessante Künstlerin.
Ich kann den Leuten, die zur Show kommen, sagen: Auch, wenn sie schon mehrere Curse-Shows gesehen haben, es wird definitiv was Neues. Natürlich werden sie auch die alten Sachen hören, die man kennt und die die Leute auch gerne hören wollen. Ich werde niemanden nach Hause schicken, ohne dass er "Widerstand" gehört hat oder "Hassliebe". Aber ich glaube, dass die Leute überrascht sein werden, weil wir dem Sound, gerade auch dem neuen Album, nochmal eine neue Dimension verleihenen.
Noch keine Kommentare