laut.de-Kritik

Kaputtes Meisterwerk zwischen dystopischem Rock und Soul.

Review von

New York City Ende November 2015: David Bowie und Tony Visconti beenden die Arbeit an "Cracked Actor", einem legendären, bereits seit Jahrzehnten ausschnittweise als Bootleg kursierenden Gig der 1974er-Tour. Schon lang war diese Veröffentlichung geplant, doch immer wieder verschoben. Bowie lässt sich auf dem Stuhl des Produzenten nieder. Visconti übernimmt das Mixen. Leider sollte es die allerletzte Arbeit im imposanten Katalog des Thin White Duke werden. Nur wenige Wochen darauf verstarb der schillernde Ausnahmekünstler.

Bowies "The Year Of The Diamond Dog"-Tour war 1974 keine besonders gute Presse beschieden. Auch das dokumentierende "David Live"-Album galt jahrzehntelang nicht gerade als Aushängeschild. Man empfand die Vorstellungen als blutleer, müde, lediglich ein Schatten vorheriger Tage. Ein großes Unrecht, das spätestens mit "Cracked Actor" zu den Akten gelegt werden sollte.

Dieses Konzert lohnt sich auch für Besitzer der verschiedenen "David Live"-Ausgaben. Zum einen enthält es mit "It's Gonna Be Me" einen formidablen Stammgast der damaligen Setlist, der auf den bisher veröffentlichten Tour-Mitschnitten nicht vertreten ist. Zum anderen entfaltet sich die sehr spezielle Dramaturgie seiner postapokalyptischen Ruinenstadt Hunger City hier noch besser. Denn es gibt eine komplette Show; "David Live" hingegen wurde aus fünf verschiedenen Auftritten (8.-12. Juli) zusammengeschustert.

Dieses Plus an Authentizität zahlt sich atmosphärisch hörbar aus. Heraus kommt ein musikhistorisch wichtiges Dokument voll unnachahmlicher Grandezza in ausgezehrter Kaputtheit. Letzteres ist beileibe keine Übertreibung. Ohnehin mit britischer Rotschopfblässe gesegnet, wirkte Bowie in diesen Tagen so kalkweiß wie ein verblichenes Laken. Er befand sich fest in den Klauen des Dämons Kokain. Sein vor kurzem noch beeindruckender Energielevel läuft hier längst konstant auf Reserve. Auch der Gesang wirkt über weite Strecken malträtiert und keuchend nahe der Schwindsucht. "If it's good, it's really good and if it's bad I go to pieces."

Dass die Songs dennoch hervorragend funktionieren, liegt an folgenden Faktoren. Zum einen passt die greifbare Erschöpfung prächtig zu den dystopisch versehrten Stücken des damals aktuellen Albums "Diamond Dogs". Auch führte seine drogeninduzierte Paranoia dazu, dass er sich während der Tournee auf der Bühne weit heimischer fühlte als im realen Lebensalltag. Und schließlich hat Bowie eine dermaßen weltklasse aufspielende Band an seiner Seite, dass der Gesamteindruck faszinierend gerät und nicht verstörend.

Da wären zum Beispiel die beiden Gitarreros Earl Slick (überwiegend die spröden Parts) und Carlos Alomar (meist die groovy Parts). Beide große Solisten, die auch auf diversen späteren Alben etliche Glanzlichter liefern. Ebenso raffiniert ist Bowies Wahl, für die Show gleich auf zwei Saxofonisten zu setzen. David Sanborn (Alt) und Richard Grando (Bariton) ergänzen einander vortrefflich. Die Backing-Vocals bieten 1a-Sänger wie Luther Vandross auf. Und heimlicher Star der Performance ist – wie bereits auf "Aladdin Sane"/"Diamond Dogs" - das wundervoll eingesetzte Piano Mike Garsons.

Stilistisch birgt der "Cracked Actor" den seltenen Einblick in eine noch nicht abgeschlossenen Häutung. Ziggy ist längst zu Sternenstaub zerfallen; die Finsternis des endzeitlichen "Diamond Dogs"-Rudels in jeder Sekunde spürbar. Bowies Transformation gen Soul und Funk ("Young Americans" 1975) ist noch nicht beendet, klopft aber schon recht deutlich an die Pforte der Wahrnehmung. Den Freunden des Souly White Duke sei das intensive "It's Gonna Be Me" ganz besonders ans Herz gelegt. Alles zusammen ergibt das Paradoxon einer simultan ebenso kraftvollen wie zerbrechlichen Ausstrahlung, der sich das Publikum nicht entziehen kann.

Wer "Space Oddity" bislang lediglich als niedliche Zinnkanne samt Mondfolk und Flöte in Erinnerung hat, erlebt hier deren storydienliche Dekonstruktion. Major Tom wandelt sich vom romantischen Aussteiger zum geräderten, postatomaren Wrack, dessen Abgekämpftheit die bunten Zeilen sarkastisch zu verhöhnen scheint. Doppelbödigste und beste Version dieses Evergreens! Entsprechendes gilt für die mehr als abgerockte, komplett lichtlose Variante des "Rock'n'Roll Suicide".

Gefangen in diesem Zustand ist es beileibe kein Wunder, dass die orwellschen "Diamond Dogs"-Nummern im Kontext als besondere Highlights fungieren. Die stets unterschätzte Ballade "Rock'n'Roll With Me" tanzt mit letzter Kraft auf den Trümmern einer längst untergegangenen heilen Welt. Der hymnische "Big Brother" offenbart die anscheinend in jeder Ära unstillbare Sehnsucht nach einem übermenschlichen Führer; nicht selten geboren aus jener derangierten Erschöpfung, die Bowie hier unfreiwillig deutlich veranschaulicht.

"It's safe in the city to love in a doorway." Trotz all dieser Perlen: Absoluter Höhepunkt ist zweifellos das knapp achtminütige "Sweet Thing / Candidate / Sweet Thing (Reprise)". Inmitten aller Verlorenheit, allen Niedergangs wächst inmitten der Zerrüttung ein zaghafter Spross der Liebe. Hauptcharakter Halloween Jack mag wie sein Erfinder aus dem vorletzten Loch pfeifen. Doch sein Pfiff wird erhört. "Will you see that I'm scared and I'm lonely?" Es entspinnt sich eine womöglich kurzlebige Romanze zu einer anderen verschütteten Seele. Denn warum stirbt die Hoffnung zuletzt? "'Cause hope, boys, is a cheap thing, cheap thing."

Trackliste

  1. 1. Introduction
  2. 2. 1984
  3. 3. Rebel Rebel
  4. 4. Moonage Daydream
  5. 5. Sweet Thing / Candidate / Sweet Thing (Reprise)
  6. 6. Changes
  7. 7. Suffragette City
  8. 8. Aladdin Sane
  9. 9. All The Young Dudes
  10. 10. Cracked Actor
  11. 11. Rock'n'Roll With Me
  12. 12. Knock On Wood
  13. 13. It's Gonna Be Me
  14. 14. Space Oddity
  15. 15. Diamond Dogs
  16. 16. Big Brother
  17. 17. Time
  18. 18. The Jean Genie
  19. 19. Rock'n'Roll Suicide
  20. 20. John, I'm Only Dancing (Again)

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT David Bowie

"Damals war ich absolut Ziggy Stardust. Es war keine Rolle mehr. Ich bin er", sagt David Bowie im Frühjahr 2008 über seine wohl berühmteste Person.

4 Kommentare mit 3 Antworten

  • Vor 7 Jahren

    Ich bezweifle, dass Bowie und Visconti die Arbeit an dem Album im November 2016 beendet haben. Bowie starb bereits am 10. Januar 2016-

  • Vor 7 Jahren

    Zwischen all den Re-Issues, Box-Sets, Demos & B-Seiten Compilations, Live-Mitschnitten, bunten Vinyl-Neupressungen, Fotoalben und Co. doch noch eine posthume Veröffentlichung, die David Bowies Karriere gerecht wird. Gut, er hat auch dran mitgearbeitet...

  • Vor 7 Jahren

    Wenn ich die liner notes von Tony Visconti richtig in Erinnerung habe, hat er den Mix allein gemacht und sich gewünscht, dass Bowie immer noch auf dem Stuhl hinter ihm säße und er sich mit ihm über die Arbeit besprechen könnte. So sei es ein merkwürdiges Gefühl gewesen, dass der Stuhl inzwischen leer ist. Aber auch so ist es für Fans eine reizvolle Veröffentlichung – auch im Vergleich zu den unzähligen Bootlegs die von einem Radiomitschnitt stammen sollen. Und es lässt hoffen, dass weitere Standards des inoffiziellen Bowiekatalogs eine offizielle Version bekommen. Dummerweise immer nur scheibchenweise, so dass der wahre Fan vieles 5 bis 6 mal mit kleinsten Abweichungen besitzen kann. Man denke nur daran, dass schon 'David live' offiziell in drei Versionen erhältlich ist. Da ist die Wunschliste für die nächste Box schon beim Musikladen Special oder dem Soundtrack zum verschwundenen David Hemmings Konzertfilm aus London 1978 …

  • Vor 7 Jahren

    Ach, der is tot oO na sowas aber auch....