laut.de-Kritik
Der Everest im Nu Metal-Himalaya.
Review von Kai ButterweckMitte der Neunziger: Das Alternative- und Grunge-Genre hängt nach dem Freitod seiner personifizierten Führung in Gestalt von Kurt Cobain zunehmend in den Seilen, als sich Bands wie Korn, Limp Bizkit und die Deftones der Wut und der Frustration der Flanellhemd-Generation bemächtigen und mit Baggy Trousers, siebensaitigen Gitarren und derbem Groove im Gepäck, das "Next-Big-Thing" ausrufen.
Nu Metal schimpft sich die Melange aus tiefergestimmter Verzerrung, treibender Rhythmik und archaischem Geschrei im Verbund mit wahlweise sphärischen oder Rap-lastigen Vocals: "Wir hieven den Sound von Faith No More auf eine neue Stufe", erklärt Deftones-Gitarrist Stephen Carpenter kurz nach der Veröffentlichung des Debüt-Albums "Adrenaline" den Sound des Sacramento-Vierers. Und für wahr: Wie eine Planierraupe walzen sich die zehn Ergüsse auf dem Erstlingswerk in die Gehörgänge und hinterlassen in Szene-Kreisen reihenweise offene Münder.
Zwei Jahre später, im Herbst 1997, präsentieren die Mannen um Ausnahme-Shouter Chino Moreno mit "Around The Fur" ihr Zweitwerk und kreieren mit Songs wie "My Own Summer", dem Titeltrack, "Rickets", "Be Quiet And Drive (Far Away)" oder "Headup" Branchen-Eckpfeiler, die auch heute noch für Massenaufläufe auf Tanzflächen eines jeden Alternativ-Clubs rund um den Erdball sorgen.
Die kantige und bisweilen punkige Attitüde des Debüts weicht auf "Around The Fur" einer Breitwandproduktion, und so verhält sich der klangliche Inhalt wie ein zum Bersten gefüllter Kokon, der sekündlich platzt, sich wieder sammelt und schließt, nur um im nächsten Moment abermals das Innere nach außen zu kehren.
Als Paradebeispiel gilt ein Song wie "My Own Summer". Kein Dreieinhalbminüter bringt das Seelenleben der Nu Metal-Generation derart grundlegend und ausdrucksstark auf den Punkt wie der Opener des Albums. Zwei Tom-Schläge läuten eine emotionale Achterbahnfahrt ein, die zwischen schleichender Vers-Struktur und Urknall-Refrain kaum Luft zum Atmen lässt. Wie ein schlürfender Ghoul tastet sich der Song voran, ehe das Quintett mit einer kollektiven Endzeit-Zündung im Chorus wie ein T-Rex-Fußballen alles in Grund und Boden stampft.
Jedes einzelne Instrument hat den Bombast inne, und dennoch verläuft sich die Terry Date-Produktion zu keiner Zeit in unausgegorener Opulenz. Jeder Hi-Hat-Hit, jede malträtierte Saite und jeder noch so versteckte Seufzer von Chino Moreno ist präsent, ist hörbar und macht das Gesamtpaket letztlich zu einem wahren Genuss für Engineer-Fetischisten.
Auch die in regelmäßigen Abständen eingesetzten Vocal-Effekte wirken selbst während der abgefahrensten Momente des Albums nicht wie Fremdkörper. Ganz im Gegenteil: Mit Vocoder und Verzerrung behaftet, fügen sich Morenos Stimmbänder perfekt in den brachialen Background ein.
Ob mit sphärischen und aufrührenden Tönen ("Mascara"), mit vertrackter Crazyness ("Rickets", "Lotion") oder Hand in Hand mit Max Cavalera ("Headup"): Das kalifornische Quartett verschließt sich auf seinem Zweitwerk nicht vor der Gefühlswelt. Vielmehr suhlen sich die Verantwortlichen in tiefgehenden und oftmals sich erst nach dem zweiten oder dritten Durchlauf erschließenden Soundkosmen.
Auch wenn das drei Jahre später erschiene Drittwerk "White Pony" kommerziell gesehen "Around The Fur" um Längen schlägt, und mit "Digital Path", "Passengers" und "Change" sicherlich ebenbürtige Sternstunden zu bieten hat: In punkto Ausdrucksstärke und Geschlossenheit steht "Around The Fur" in der Band-Diskografie für sich; nicht einsam und verlassen, denn mit "Adrenaline", "White Pony" und allem, was noch folgen sollte, befindet sich das Album in guter Gesellschaft. Letztlich bildet der Zweitling aber dennoch den Everest im Deftones-Himalaya. Denn ganz oben, am Gipfel, da wo bei anderen die Lungen kollabieren, da springen Songs wie "My Own Summer" oder "Be Quiet And Drive (Far Away)" ohne Atemmaske im Dreieck.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
20 Kommentare mit einer Antwort
hmm Großartig
hätte white pony genommen, aber das wurde ja leider schon rezensiert
der letzt Mohikaner sind sie diese Deftones ... wärend andere in die NuWhateverMetal-Kreisklasse absteigen haben die Jungs jeden Treffer versenkt! Diamond Eyes ist wieder so wunderbar geworden...eine kaufichblind-band halt - Chapeau
IS RICHTIIIIG
White Pony war doch das letzte richtig geile Album von denen. Na gut, "Bloody Cape" auf dem Album danach hat Ärsche getreten, aber der Rest? Naja.
Ich liebe die Band, finde die Platte aber bisweilen anstregend. Natürlich sind Songs wie "My Own Summer" und "Be Quiet And Drive (Far Away)" grossartig, aber mit dem Wahnsinn von "White Pony" kann das nicht mithalten. Aber tja, da meinte der Laut.de-Redakteur, er müsse ja unbedingt 4 statt 5 Sterne geben, und "around the fur" war noch frei, also musste diese Platte als Meilenstein ran. Unsinnig, denn ich glaube, die ganz grosse Mehrheit der Deftones-Jünger wird mir zustimmen, dass "White Pony" einfach für sich steht.