12. Juli 2011

"Komplizierte Musik ist wie Masturbation"

Interview geführt von

Tatort Musikmesse, Frankfurt: Am Eingang des Bereichs Gitarren und Amps hat sich die Peavy-Crew positioniert, um ihr Equipment zur Herstellung verzerrter Schallwellen anzubieten.Inmitten eines Gewusels aus Marketingvertretern, Verkäufern, Technikern, selbsternannten und auserwählten Musikern ist es wahrlich schwer den Überblick zu behalten. Zu diesem schwarmartig auseinander stiebenden und keinem Konzept folgend wieder zusammenfindenden Gewimmel gesellt sich ein Frequenzgewirr, das die Struktur des Schienennetzes der deutschen Bahn wie eine Feng-Shui-Kulisse aussehen lässt. Ständiges Geklimper, Gewimmere, Gewummere und niemals endende Workshops, an denen Gitarristen aus aller Herren Länder solieren bis die Finger glühen, ergeben keine Wohltat für die Ohren.

Zum Glück ist der leidende Redakteur damit beschäftigt Kanadas Ober-Weirdo Devin Townsend ausfindig zu machen und ihm ein paar Statements zu seinen neuen Scheiben "Deconstruction" und "Ghost" zu entlocken. Waren die ersten beiden Alben "Ki" und "Addicted" so etwas wie die Rettungsanker, an denen sich Devin Townsend aus dem Gewirr seiner Seele herauskatapultierte, schickt er sich nun mit den abschließenden beiden Alben "Deconstruction" und "Ghost" an, wieder die Extreme auszuloten, um endlich Frieden mit seiner ersten Lebenshälfte zu schließen. Insofern huldigt die Tetralogie unter dem Banner des Devin Townsend Projects den unterschiedlichen musikalischen Geschmäckern in der Art einer Best-Of-Veröffentlichung, wobei der Schwerpunkt auf den musikalischen Extremen liegt.

Auch die obligatorischen Signierstunden dürfen auf einer Instrumenten-Vernissage nicht fehlen. Und so sitzt Devin Townsend am besagten Peavy-Stand in ein legeres Schwarz gekleidet und signiert in Zen-buddhistischer Gelassenheit die bereit liegenden Poster und ihm dargebotenen CD-Cover. Die Offenherzigkeit, mit der er auf seine Fans zugeht, überrascht vor dem Hintergrund des bisherigen musikalischen Lebens des 39-Jährigen, das auf ein Wort reduziert nur mit Chaos beschrieben werden kann.

Während eines kurzen Intermezzos bei Steve Vai stand der damals Anfang 20-Jährige kurz vor der Nobilitierung zum Poster-Boy. Kurze Zeit später gab er Vai den Laufpass, um fortan Musik jenseits jeglicher Konventionen zu kreieren. Die futuristischen Doublebass-Dauerbrenner Strapping Young Lad, zahlreiche Kollaborationen (u.a. Ayreon) und Produktionen (u.a. Soilwork) und die Vertonung des bekloppten Daseins eines kaffeeabhängigen Aliens namens Ziltoid stehen als Metapher der persönlichen Verfänglichkeit für Drogen aller Art und sind wichtige Stationen, aber in ihrer beeindruckenden Anhäufung auch nur Bruchstücke des Gesamtkunstwerks Devin Townsend.

Im Rahmen eines Pressegigs präsentiert Devin Townsend die beiden Klangkörper, die für die musikalische Bandbreite verantwortlich sind: Eine metallic-schwarze Flying V-Streitaxt, aus der ein brachialer Sound heraustönt, und eine silberne Akustik-Gitarre, deren Wohlklang die Ohren auf "Ghost" umschmeichelt. Dabei sind es vor allem technische Fragen, die Townsend mit einer gehörigen Portion Humor, Slapstick-Einlagen und Entertainment-Qualitäten beantwortet. Nebenbei spielt er einige Auszüge sowohl auf seinen Gitarren als auch aus seinem I-Pod und ist nicht verlegen, einige rasante Solo-Licks auf die staunende Pressemeute loszulassen.

Auf die Frage aus dem Auditorium, die sich um die Noten auf den Bünden des Instruments und deren bewusste Verwendung in der Komposition dreht, antwortet der Kanadier gewohnt humorvoll:

Es gibt tatsächliche Menschen, die ihr Leben damit verbringen herauszufinden, welche Note gerade spielt wird und ob es damit eine tiefere Bewandtnis hat. So nach dem Motto "Oh, das war jetzt der fünfte Bund, welche Skalen lagen dieser Melodie bloß zugrunde?" und ich schaffe es meistens nur blöd dreinzuschauen. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht genau, was ich anderes fabriziere als mich auf die verschiedenen Muster zu beziehen, die mich auf eine entsprechende Art und Weise bewegen: Hall-lastige, obertonreiche Klangkaskaden. Mir sagt z.B. eine bestimmte Gitarrenstimmung zu und das geht auf den Led Zeppelin-Song "Friends" zurück, ein sehr folkiges Thema, das aufgrund des Open-Tunings sehr raumgreifend klingt.

Aber ebenso besitze ich als Sänger sehr viele Facetten und Stilistiken des Heavy Metal, die ich je nach Bedarf und Bild in meinem Kopf einsetzen kann. Wenn ich die ganze Zeit darauf achten müsste, was meine Hände gerade tun, würde sicherlich irgendetwas schief gehen. Aber bei einem Open-Tuning reicht es einfach einmal anzuschlagen und alles läuft wie von alleine. So kann man sich gleichzeitig einen schrubbeln und großes Heavy-Metal-Kino auffahren. So, das ist das was ich tue, ich habe bislang ca. 25 Veröffentlichungen rausgehauen, wovon die eine Hälfte mellow und die andere heavy klingt. Auf der einen Seite gibt es komplizierte Musik über Cheeseburger, auf der anderen Seite emotionale, légère Musik. Sicher werden wir im Sommer noch mit einigen Überraschungen aufwarten wie der Live-Umsetzung von "Deconstruction" mit einem hundert Mann starken Orchester flankiert von einem vierzig-köpfigen Chor.

Spricht es und verziert sich schelmisch grinsend in seinen Rückzugsraum, wo er mich einige Zeit später zum Interview empfängt.

"Komplizierte Musik ist vollkommen lächerlich"

Lass uns zunächst über dein neues Projekt reden. Sind die beiden Alben, die jetzt herauskommen so etwas wie Postkarten von unterschiedlichen Bewusstseinszuständen?

Das ist, um ehrlich zu sein, ein etwas vorschnelles Urteil. Ich mag es einfach, unterschiedliche Arten von Musik zu kreieren und zu praktizieren. Es ist wichtig für mich, verschiedene Statements abzugeben, die aber allesamt einem Geist zugeordnet werden können. Die Unterschiede und die große Bandbreite, die sich von sanft und fast schon sehr locker bis hin zu ultraheavy erstreckt, ergibt trotzdem eins und geht auf das Wirken einer Person zurück. Ich muss mich nicht in unterschiedliche Lebensstile einklinken, ich muss mich auch nicht in emotionalen Dramen verirren, um kreativ zu sein. Es ist für mich sehr wichtig zu sagen, dass der Grund, warum ich diese unterschiedlichen Musikstile integriere – und ich benötige diesen Ansatz mehr denn je – schlicht mein Dasein als Musiker ist. Ich bin nicht nur ein Heavy Metal-Typ, der auf dicke Hose machen muss.

Das leuchtet ein. Man möchte sich halt nicht auf eine Musikrichtung reduzieren, sowohl was den eigenen Geschmack angeht als auch die Typisierung von außen, den Fans und den Medien.

Korrekt, und ich denke jeder, der sich unter Ausschluss anderer Spielarten exklusiv einer Musikrichtung zuwendet, tut sich keinen großen Gefallen. Im Gegenteil. Ohne mich, denn ich mag sämtliche musikalische Spielarten. Wenn man sich mal die Arbeit eines Tages vergegenwärtigt, dann wache ich morgens auf und höre ein wenig Jazz, zum Nachmittag ein wenig Pop, zum Abend hin genehmige ich mir Metal und in der Nacht höre ich klassische Musik. Für mich und für die meisten Menschen mit denen ich in meinem bisherigen Leben Zeit verbracht habe, ist das nichts Außergewöhnliches. Um noch einmal auf die wichtigste Aussage zurückzukommen: Ich bin einfach Musiker, der sich natürlich auch einmal anderen Dingen widmen kann. Aber es gibt einfach keine Message, kein Drama und keine versteckte Agenda. Ich genieße es Musik zu hören, am besten so viel wie möglich.

Du hast gerade darüber geredet wie du deinen Tag mit Musik verbringst, morgens ein wenig Jazz, abends möglicherweise Klassik. Auf der neuen Platte "Deconstruction" gibt es einen Song mit dem interessanten Titel "The Mighty Masturbator" mit vier oder fünf komplett unterschiedlichen Parts. Auf einen Prog-Metal-Part folgt eine Techno-Parade und das Ende markiert ein lustiger Walzer. Wie kam es zu diesem Mash-up an Stilen?

Ich denke es ist das, was man literarisch als "Stream Of Consciousness" bezeichnen kann. Für mich dürfte es erheblich schwieriger sein, einen Popsong zu schreiben im Vergleich zu einem Prog Metal-Song. Meiner Meinung nach überschattet die meiste Zeit der technische Aspekt den emotionalen Gehalt. Aus diesem Grund habe ich das Stück "The Mighty Masturbator" genannt. Ich wollte einfach ein Statement über Prog im Allgemeinen ablassen. Es gibt Musik, die aus 25-minütigen Auswüchsen besteht, die dann ebenfalls nur ein verdammtes Teilstück des gesamten Tracks sind. Klar kann man das sehr ernst nehmen.

Aber meiner Ansicht nach geht eine solche Herangehensweise meilenweit am Ziel vorbei. Ich nehme genau die Leute auf die Schippe, die "Deconstruction" für bare Münze nehmen. Aber "Deconstruction" ernst zu nehmen, würde den entscheidenden Punkt verfehlen. Selbstverständlich habe ich hiermit eine komplizierte Scheibe aufgenommen, die folgende Message trägt: Komplizierte Musik ist vollkommen lächerlich, für mich wohlgemerkt. Ich mag es, es ist ein reiner Spaß, in etwa so wie Masturbieren. Und glaube mir, es ist einfacher als Pop. Du hast hier einen 17-minütigen Song mit unterschiedlichen Teilen und Szenen und all dem ganzen Scheiß, der dazugehört. Aber für mich ist es nicht mit einem guten Abba-Song zu vergleichen. Aus einem einfachen Grund, da dies der perfekte Song ist.

Und somit schließt sich mit "Ghost der Kreis" ...

... und mit "Ghost" bewege ich mich im Prinzip in die entgegengesetzte Richtung. Nun habe ich mich gewissermaßen ausgiebig mit der komplizierten Seite beschäftigt. Verstehe mich nicht falsch, ich liebe diese extreme Stilrichtung sehr, aber als ich damit fertig war, stellte sich die Frage, was ich nun wählen würde, für mein Leben in der Zukunft. Möchte ich auf ewig komplizierte Sachen machen? Nein eben nicht. Ich wollte eher akustische Musik und Folk spielen. Mich spricht diese Musik direkter an. Je älter ich wurde, desto mehr war ich an den einfachen Statements interessiert, da diese auf den Punkt kommen. Wenn du diese langen, ausschweifenden Statements hast, dann ist das natürlich sehr interessant, aber es ist sehr selbstgefällig und intellektuell, so nach dem Motto "wir sind so clever". Aber es dauert eine viel zu lange Zeit um etwas zu sagen und deswegen dreht sich "Deconstruction" um Cheeseburger. Einer Musik zuzuhören, die niemand versteht, ist doch absurd. Bei der Fertigstellung des Songs hab ich mich ein wenig geschämt, als ich realisierte, dass das jetzt wirklich ich bin, der eigentlich nur auf den Punkt kommen möchte. Das ist der Grund warum "Ghost" so einfach klingt, so romantisch.

Mir lagen bei der Vorab-Version keine Lyrics vor, weswegen ich sie zunächst einmal so interpretiert habe, dass man die Texte auf "Deconstruction" als zynische oder auch fatalistische Sicht auf unser heutiges Dasein lesen könnte.

Klar doch, wenn ich die Tetralogie nicht mit "Ghost" abgeschlossen hätte, würde ich dir in jedem Fall zustimmen. Wenn es "Deconstruction" wäre, dann würde das Ende fatalistisch ausfallen. Aber "Ghost" bildet für mich den Schlusspunkt, mit dem ich klarstellen möchte, dass unsere Gesellschaft zwar hart und ungerecht ist. Ja, die Menschen sind wütend, anscheinend gibt es zu viele Menschen auf diesem Planeten. Aber es gibt auch dieses eine Prozent an Menschlichkeit. Natürlich reicht ein Prozent beileibe nicht aus, aber ich habe mich diesem einen Prozent lieber gewidmet als den restlichen 99 Prozent, die einfach nur abscheulich sind. Aber deswegen gibt es eben auch "Deconstruction", da ich mich nicht davor verstecken wollte. Ich bin mir der negativen Aspekte, die leider überwiegen, sehr bewusst. Ich möchte ja auch nicht als naiv wahrgenommen werden. Aber davon zu wissen, heißt nicht dies auszuschlachten. Andersherum finde ich es wesentlich smarter.

"Drogen haben mich Jahre gekostet"

Du bist mit dem Devin Townsend Projekt gewissermaßen wieder aus der Versenkung zurückgekehrt, nachdem du dich davor für einige Zeit aus dem Business verabschiedet hast. Was hat dich eigentlich zu dieser Entscheidung getrieben?

Ich denke mal, ich hatte einfach zu viel Angst vor Musik und letztendlich auch vor mir selbst. Außerdem überlud ich meine Fans mit meinen Wahnvorstellungen. Dies konnte ich letztendlich auf den Konsum von Marihuana zurückführen. Für manche Menschen mag es in Ordnung sein Drogen zu nehmen ... bzw. so lange es ihnen die Chemikalien erlauben dies zu tun. Ich fand das für mich in dem Moment heraus, als ich damit aufhörte. Mit wurde gewiss, dass die Paranoia und die Angst vor Musik auf den Drogen-Missbrauch zurückzuführen waren. Es hat mich mehrere Jahre gekostet, davon wegzukommen, zu realisieren, dass ich nicht nur Angst vor mir habe und dass ich es einfach liebe, Musik zu spielen und auf der Bühne zu performen. Es ist einfach wichtig für mich, den Dingen nachzugehen, die für mich essentiell sind und nicht aus Angst vor ihnen zu erstarren. Sicher kann man scheitern, man kann aber auch erfolgreich sein.

In deinem Beruf ist man nun mal in gewisser Weise auf den Erfolg angewiesen.

Der bedenklichste Teil von dem was ich tue, ist sicherlich, dass sich der Großteil meines Lebens in der Öffentlichkeit abgespielt hat. Ich gebe im Schnitt fünf Interviews pro Woche. Und es hat über die letzten zwanzig Jahre gesehen nicht aufgehört, Monat für Monat und das ist schon ein wenig absurd. Darüber hinaus wurden diese Gespräche alle aufgezeichnet. Es ist sehr interessant, wenn Leute auf mich zukommen und mich mit einem Statement konfrontieren, an das ich mich in dieser Form nicht erinnern kann, bzw. das meinen derzeitigen Wissensstand nur bedingt widerspiegelt. Das dürfte sich in Zukunft nur schwer ändern.

Planst du eigentlich Ziltoids Rückkehr?

Wenn ich wieder zuhause bin, plane ich Ziltoid in der Art eines Internet-TV-Programms zu realisieren, er wird der Zeremonienmeister meiner Live-Shows.

Du hast "Deconstruction" als eine Reise durch deinen Allerwertesten bezeichnet. Was meintest du damit?

Hmm, schwierig zu sagen ...

War es vielleicht eine Marketing-Strategie?

Ich bin nicht wirklich gut im Selbstmarketing, da kannst du einen drauf lassen. Dieser Satz fasst meine eigene Lächerlichkeit in der Vergangenheit recht gut zusammen. Ich dachte immer, Progressive Musik sei so unglaublich ernsthaft. Deswegen wollte ich "Deconstruction" machen, so dermaßen over the top, dass einige Proggies Maulsperren bekommen, da sie das so niemals hinbekommen würden. Und das mag sogar stimmen, aber eigentlich ist die Platte totaler Humbug. Nur weil die Musik kompliziert ist, ändert es nicht daran, dass man Musik mit der Seele erleben muss. Musik ohne einen gehörigen Schuss Humor ist öde. Und alle, die meinen, dass da unbedingt ein Sinn dahinter stehen muss, finde ich anmaßend. Was ich wirklich tun möchte, ist Musik zu machen, die frei klingt, sowohl in kreativer als auch emotionaler Hinsicht. Aber ohne diesen Hang zur Selbstbestätigung. Denn die wirklich wichtigen Dinge in meinem Leben haben rein gar nichts mit Musik zu tun.

Auf "Addicted" hast du bereits mit Anekke von Giersbergen von The Gathering zusammengearbeitet. Kannst du uns etwas über die Gastmusiker auf den neuen Alben erzählen?

Auf "Deconstruction" ist so ziemlich alles versammelt was Rang und Namen hat. Aber ich habe mich dafür entschieden, daraus nicht ein Verkaufsargument zu stricken und habe deswegen auch nicht einen großen grünen Sticker auf dem Jewel-Case platzieren lassen. Ich wollte das nicht hinaustrompeten. Die Musiker, die involviert sind, stammen alle aus meinem Bekanntheitskreis, und auf "Ghost" spielt ein Musiker Flöte, den ich schon seit meinen Jugendtagen verehre.

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