laut.de-Kritik

Die S.W.A., Schwaben with Attitude, auf dem Höhepunkt.

Review von

Ich: Los, Digger, Kapuzenpulli an, Rucksack auf, die Absolute Beginner jammen im Nachtcafé. Ja genau die, die mit "Natural Born Chillaz", "KEINE" und so. Aber nimm statt der Tarnhose die gute Jeans – wir müssen danach noch ins MAX, abtanzen. Mandy und ihre Freundinnen sind auch da.

Kumpel: Alder, der Eurodance geht mir aber extrem auf die Eier.

Ich: Ach komm, dann chillen wir an der Bar und gehen eben nur zu den Fantas auf die Tanzfläche. "Pop-Pop-Populär", "Sie ist weg und ich bin wieder allein allein" - weißte doch. Hühnermusik halt.

Kumpel: Okay, immer locker bleiben, ich komm' vorbei.

Deutschrap, Vorstadtjungs und Frauen - Mitte der Neunziger ging da gar nichts, weder ganz noch konkret und schon gar nicht in der Nachbarschaft. Die Hip Hop-Szene feierte sich, ihre Skills und Einzigartigkeit auf Jams vornehmlich selbst, während ein Großteil des weiblichen Geschlechts woanders weilte, in der Dorfdisse oder im Indie-Club.

Erst das vierte Album und die darauf erfolgte Entwicklung der Fantastischen Vier, vom Deutschrap-Enemy Number One zur schwäbischen Beastie Boys-Version, führte zusammen, was seit Adam Yauch und Schwester Ewa zusammengehört: "Lauschgift, überall Lauschgift, in allen Ecken" – und aus allen Boxen.

Bereits der straighte Boom Bap-Opener "Populär" entpuppte sich als klassischer Party-Feger - "Jump Around" oder "Insane In The Brain" lassen grüßen wie Udo Jürgens. Doch das war erst der Anfang und die Krieger erwachten. Kein funkiges Gefrickel oder blubberende Soundblasen, kein spackiges Vanilla Ice-Video ("Die Da"), keine Hippie-Ausflüge ("Tag am Meer"), sondern klassisch dickes Ego-Boosting mit Augenzwinkern. Die S.W.A., Schwaben with Attitude, ballerten zurück wie das magische Dreieck.

Auf dem Abgeh-Monster "Was geht" legt Thomas D das Rödelheim Hartreim Projekt inklusive Sabrina Setlur komplett alleine flach wie Fliesen: "Setz dich hin wir singen dir ein Lied vor / über Schweine / denn wir machen Reime um die sie uns beneiden / Schweine / und damit auch noch Scheine das können die nicht leiden / ooh das war gemein ich seh es ein es war nur wegen dem Reim / nur Spaß ihr fallt doch darauf nicht mehr rein / ich mein ihr wisst doch was ich mein ich wollte euch nur foppen / denn in Wirklichkeit will ich Schwester S poppen."

Und Smudo schießt bei seiner knallhart-kopfnickenden "Die Geschichte des O" wütende Verse in Richtung Torch und der 'echten' Hip Hop-Szene: "... mit deinem Mikro in der Hand wie der Prophet in seinem Land / lästiger Querulant / lächerlicher Repräsentant (...) hör ich alte Schule neue Schule Hip Hop hurra / die hohe Schule heißt Smu und der ist immer da."

Respekt muss man sich verdienen und so ziemlich jeder pop-hassende Hip Hopper sah Thomas D, Smudo, Deejot Hausmarke und And.Ypsilon nach dieser Diss-Keule in neuem Licht – und traute sich auch ohne Gesichtsverlust wie Ghostface auf die Tanzflächen der Großraumschuppen. Da interessierte es nur noch Rap-Nazis, dass die drei Emcees ähnlich wie die Beasties oder Run DMC nie das Level von Samy Deluxe, Azad und Co. erreichten. Ein Team ist eben mehr als die Summe der Einzelteile.

Die allgegenwärtige Locker-Vom-Barhocker-Qualität hebt "Lauschgift" über alle anderen Fantastischen Vier-Alben auf reales Meilenstein-Niveau. Zwar kopiert der funky Boom Bap im Jahre 1995 zumeist schamlos den '92er Sound aus Übersee und hinkt daher drei Jahre hinterher wie Dopingfahnder, ist dem Deutschrap in Sachen Swagger und Club-Groove jedoch um Jahre voraus.

Die Massiven Töne mit "Kopfnicker" (1996), der Freundeskreis mit "Die Quadratur des Kreises" (1997), Blumentopf mit "Kein Zufall" (1997) oder die Absolute Beginner mit "Bambule" (1998) ziehen – auch wenn nur indirekt beeinflusst – erst viel später nach. Hip Hop wird auch dank "Lauschgift" zur Massenbewegung.

Das Album verdeutlichte jedoch nicht nur wegen der Posse-Tunes die Vorreiterrolle der Vier. Wie beim Wu-Tang Clan durfte jedes Mitglied auf Solo-Songs seinen ureigenen Charakter stärker herausarbeiten. Besonders Thomas D nutzte die Lieder "Krieger", "Thomas und die Philosophie" und "Nur in deinem Kopf", um seinen Mix aus Rap, Alternative Rock und Poesie unters Volk zu bringen. Michi Beck transferierte auf "Michi gegen die Gesellschaft" und "Sie ist weg" G-Funk-Sounds und Ladylover-Styles nach Stuggitown. Einer für die Frauen halt. Und einer, der die Frauen zum Deutschrap brachte. Endlich.

Ich: Konzert war fein, was? Thorsten, Dan, alle da und Eißfeldts Freestyle burnte derbe.

Kumpel: Yo, wie lange warste noch in der Disco? Haste noch wen klargemacht? Ich bin um zwei Uhr mit dem Taxi weg, ging gar nix mehr und die Mugge wurde trotz Fantas und Co. immer übler.

Ich: Noch bis vier. Frauentechnisch lief wenig. Nächstes Mal muss es aber klappen, will wieder eine Beziehung.

Kumpel: Hast ja recht. Ich möchte auch mal wissen, welcher Film auf dieser Welt einen Oscar erhält, in dem die weibliche Hauptrolle fehlt.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Lauschgift
  2. 2. Populär
  3. 3. Sie Ist Weg
  4. 4. Frühstück
  5. 5. Was Geht
  6. 6. Nur In Deinem Kopf
  7. 7. Tokio-Paris
  8. 8. Die Geschichte Des O
  9. 9. Ich bin
  10. 10. Hey Baby
  11. 11. Michi gegen die Gesellschaft
  12. 12. Brems 2000
  13. 13. Thomas und die Philosophie
  14. 14. On the next album
  15. 15. Locker Bleiben
  16. 16. Love Sucks
  17. 17. Wie die anderen
  18. 18. Konsum
  19. 19. Krieger
  20. 20. Albert und die Philosophie

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53 Kommentare mit 14 Antworten

  • Vor 7 Jahren

    Man kann über ihre Musik denken, was man will, aber die Tatsache, dass sie deutschsprachigen Rap erst populär gemacht haben, bleibt, ihr könnt euch aufregen, wie ihr wollt.

  • Vor 5 Jahren

    hach...
    waren das noch zeiten, als wir in einem dunklen keller...
    mit einem ghetto-blaster (ja das gabs damals)...
    und jeder menge illegalem kraut (ja das gabs damals auch schon)...
    diese scheibe rauf unter runter gehört haben...

    schön wars!!!

  • Vor 2 Jahren

    Da wollten sie dem HipHop noch beweisen, dass sie auch street-kredibel sein können. Gleichzeitig weniger verkopft und experimentell als „Die vierte Dimension“, also massentauglicher. ˋN bisschen jung und anarcho sind wir auch noch. Alles in allem ergibt das die wahrscheinlich beste Platte der Fantas.

    • Vor 2 Jahren

      Den Satz „Da interessierte es nur noch Rap-Nazis, dass die drei Emcees ähnlich wie die Beasties oder Run DMC nie das Level von Samy Deluxe, Azad und Co. erreichten.“ in der Review finde ich allerdings schon etwas strange...