laut.de-Kritik
Die dunkle Chronik einer sterbenden Welt.
Review von Rinko HeidrichSämtliche Sicherheiten verschwunden. Mit jeder Stress-Situation geht der Mensch ein stilles Arrangement ein: Rückzug in die eigene Welt und resignierte Akzeptanz der Gegebenheiten. Gut, Layla, Oktoberfest und Winter-WM wollen uns glauben machen, dass alles in Ordnung sei. Da hilft dann nur noch Augen schließen, dass das Monster in einer Wolke aus Eskapismus verschwindet.
Doch was ist, wenn es einfach nicht verschwinden mag und sich für unsere ignorante Bequemlichkeit gar nicht interessiert? Nicht die Zwangsoptimisten haben unsere Zukunft korrekt beschrieben, es waren die Mahner und sogenannten Schwarzseher. Dunkel wie das eigentlich sehr schöne Tier auf dem Albumcover der Nerven, bei dem nicht klar erscheint, ob es zutraulich, angsterfüllt oder zur Jagd bereit ist. Klar ist recht schnell: Die Nerven überbringen uns auf dem selbstbetitelten Album schlechte Botschaften.
"Und ich dachte irgendwie, in Europa stirbt man nie" ist die bittere Wahrheit eines Versagens. Schon vor Pandemie und Ukraine gab es die Tendenz, sich vor dem Elend der Außenwelt zu verschließen und brennende Flüchtlingslager auszublenden. Es ist nicht mal mehr Wut da, einfach blankes Entsetzen über das Ende einer Illusion. Die Gitarren schwellen an, aber explodieren nicht mehr wie auf "Fake". Es ist ein sehr beunruhigendes Stimmungsbild, was das verzweifelte, sich wiederholende "Ich war hier noch nie" verstärkt. Keiner von uns in der Komfortzone Europa stand bisher so vielen Bedrohungen gegenüber, Gleichgültigkeit streng verboten. Retten sie Europa, solange es noch steht. Die Punks propagierten auch mal No Future und es ging trotzdem weiter.
Ein Songtitel wie "Deutschland muss in Flammen stehen" weckt erstmal Schlachtruf-Assoziationen der Einstürzenden Neubauten. Auch hier entstehen Interpretationsspielräume, wer die Republik brennen sehen möchte. Die AfD vielleicht, die um steigende Umfragewerte in Krisenzeiten weiß und am rechten Rand zündelt? Oder geht es vielleicht doch um das Abbrennen des gegenwärtigen mal wieder sehr hässlichen Deutschlands, in dem Fascho-Blödsinn jeden Tag mehr in die Mitte vordringt? Unabhängig von der Deutung solcher Zeilen fällt einem die sehr druckvolle Produktion auf. Verdammt! Die klingt einfach gut.
Vielleicht war früher mehr kratzbürstige Räudigkeit dank einer raueren Herangehensweise, aber nun ist jedes Instrument klar zu hören. Die spärlichen, genau richtigen Streicher-Arrangement-Einsätze in "Ein Influencer weint sich in den Schlaf" wirken nicht anbiedernd poppig, sondern intensivieren die vorherrschende Traurigkeit noch einmal. Eventuell ein kleiner Inside-Joke der Band, dass dieser Song wie "White Room" von Cream klingt, einem Song über Depression. Bereits jetzt herrscht unter Musikerkollegen der Konsens, dass Die Nerven mit diesem Stück etwas Großes geschaffen haben, mindestens einen neuen Fan-Liebling. Kein plakativer Spott über Influencer, den sich ein Ekel-Populist wie Oliver Pocher zu eigen macht. Die ausweglose Situation macht betroffen. "Es muss weiter gehen", beschreibt das entsetzliche Fazit zum Ende, ohne die Kraft des Aufbäumens gegen das Schicksal. Das Psychogramm eines verlorenen Menschen, der jede Sekunde den Abstieg und Werteverfall fürchtet.
Die andere Seite beschreibt "15 Sekunden", eine ordentliche Noise-Rock-Flut. "Du hast 15 Sekunden, biete mir was an" befehlen wir Konsumenten jenen bedauernswerten, eben angesprochenen Content-Lieferanten. Unser Gehirn so reiz-konditioniert, dass wir ständig einen neuen Impuls brauchen - scrollen, scrollen, Nachricht, scrollen, Eilmeldung, Push-Up-Message. Schon wieder die Zeit vergessen und doch wieder aufs Smartphone schauen. "Es ist zu viel", schreien die Nerven in diesen dunklen Raum, dessen Wände mit unfassbarem Getöse auf einen einstürzen. Eine Lösung gibt es nicht.
"Die Nerven" ist kein ästhetisches Manifest wie "Nie Wieder Krieg" von Tocotronic, das uns Trost spendet. Man wusste vielleicht schon vorher, dass Eskapismus nicht die Lösung ist, nun legt das fünfte Nerven-Album diese Erkenntnis noch einmal komplett frei. Der Anfang vom Ende, vielleicht auch der Schlusspunkt eines komplett falschen Weges. Für manche vielleicht überraschend: Nicht Tocotronic haben das große, dringliche Album für 2022 erschaffen, Die Nerven setzen das Limit neu. Ein dunkle Chronik, ein lautes Signal und ein schwerer Ascheregen über den Trümmern der alten Welt. Wir können wieder neu beginnen.
16 Kommentare mit 73 Antworten
Nachdem ich das Podcast-Interview von Jan Müller mit Die Nerven angehört habe, kann ich mir die irgendwie nicht mehr geben.
Des ist ja jetzt auch irgendwie doof. Hast du schon gute Podcasts von J.Müller gehört? Das ist doch der Bassist von Tocotronic ? Übrigens mein Onkel putzt in den Hansa-Studios, ich könnt euch da paar so Details erzählen…. Uiiiuiui
Auf die Details wär ich natürlich schon interessiert Nehme aber an, in den Hansa Studios herrscht Verschwiegenheitspflicht
Also der Podcast mit dem Interview mit Jens Rachut (Blumen am Arsch der Hölle, Dackelblut, ...) war schon geil. Wobei das natürlich mehr an Rachut lag als an Jan.
Der Jens ist schon eine Legende
Cringe. Deutsch klingt so furchtbar gewollt, gerade ohne lyrisches Talent. Weitgehend unmusikalisch ist die Sprache sowieso, also bräuchte es schon große Bemühungen der Intonation oder Dichtung.
Musikalisch würds international für solch einen Standard 3/5 Sternen geben, hier freut man sich halt schon derbe, wenns zu diesem Standard überhaupt reicht. 2/5.
Ragismo
Jetzt packt unser Troll auch noch Kriterien aus der, hier oftmals verpönten, Kunsthochschule aus.
Lösch dich!
Klang, Gehalt und Ausdruck von Worten ist wirklich nur eine Sache der Kunsthochschulen. Der gemeine Pöbel interessiert hat sich nur dafür zu interessieren, ob sich z.B. "Maus" auf "Haus" reimt oder nicht.
Wobei ich mich schon manchmal frage, ob zwischen uns und Middi in der Pöbelhierarchie nicht genügend Abstand herrschen müsste, sodass er uns gar nicht erblicken kann. Zu den Eliten dürfte es ja dann auch nicht mehr allzu weit sein
Naja, du und Middi sind ja grundsätzlich mal beide einfach noname Muppets, da habt ihr viel gemein...du bist halt dazu noch ein volldebiler Idiot.
Gibt es hierzu Studien?
Simple Evidenz, Simple Evidenz...
Beitrag übrigens gemeldet, Ragism.
Ui, wie aufregend! Welcher denn, und wofür? Kann mich gar nicht daran erinnern, in letzter Zeit ein böses Mädchen gewesen zu sein...
Die Nerven erzeugen bei dir "Cringe"?
...
Offensichtlich beherrschst du abgesehen von "cringy"-Anglizismen keine andere Sprache, sonst könntest du ja nur noch Instrumentalmucke hören.
Wobei selbst Mogwai haben schon Lieder mit Gesang ... Nur noch Kammermusik vielleicht? Du tust mir Leid
Alle.
#HaltDieFresseRage oder komm endlich mal ran hier auf nen Meter
Dieser Kommentar wurde vor 2 Jahren durch den Autor entfernt.
Edginess wird ab jetzt nur noch auf einer Skala von 0 bis 100 Ragis gemessen.
An besonders edgien Tagen komme ich auf 40-50 Ragis
Aber nachdem der OP in seiner Kürze schon etwas zu heftig war und ich noch mal ein paar Stücke hörte, kann ich nur sagen: Meh. Ist in Ordnung. Durchschnitt halt. Geht halbwegs schnell rein, nix bleibt haften. Sehr Vergleichbares habe ich über die Jahre aus zig Proberäumen schallen gehört. Kapiere also die lächerlich übertreibenden Fans hier gar nicht. Vielleicht waren die in zu wenigen Gebäudekomplexen mit flaumbebärtigten Gitarrenjungsbands.
Dann bist du nicht in der Lage dazu, gute Songs zu erkennen. Passiert.
Neeeeee, sowas kann nur ein c452h ♥
Ich fand die auf Platte schon immer anstrengend, aber das ist ne super starke Liveband!
Ich finde das Album echt groß. Macht Bock, die mal live zu sehen.
Gefällt mir musikalisch wieder extrem gut. Die Texte über weite Strecken auch, die richtige Balance im Spannungsfeld Konkret/Plakativ vs. Kryptisch/Nichtssagend treffen sie für meinen Geschmack jedenfalls ziemlich gut. An einigen Stellen weiß ich trotzdem nicht so ganz, was ich damit anfangen soll und kann es dann auch ein Stück weit nachvollziehen, wenn einem das zu blassiert rüberkommt.
Aber weil ich mich in Summe wirklich bestens unterhalten fühle und heute kurz mal die Sonne geschienen hat, zücke ich jetzt trotzdem mal nen Fünfer hierfür. Der Vorgänger hat im Zweifel aber weiter die Nasenspitze vorn, weil "Frei" vmtl. unter meinen 20 Lieblingssongs auf Deutsch landen würde.
Boah, bin spät dran, auch weil der Hype mich abgeschreckt hat, aber der Hammer! Schon lange kein dermaßen mitreißendes Rockalbum aus Deutschland mehr gehört und auch im internationalen Vergleich sicher eins der Alben des Jahres.