laut.de-Kritik

Eher Zustandsbeschreibung als Aufruf zur Aktion.

Review von

Mit dem Deutschen Oktober plante die Kommunistische Internationale einst den gewaltsamen Umsturz in der krisengeplagten Weimarer Republik. Knapp hundert Jahre später tritt Disarstar nicht zwingend als Kommunist in Erscheinung, doch im Gegensatz zum Großteil selbsternannter Linker verheddert sich der Rapper nicht in Identitätsfragen, sondern rückt ganz traditionell die Klassenfrage in den Fokus. Nach "Klassenkampf & Kitsch" handele es sich bei seinem "Deutscher Oktober" laut eigener Aussage um "das politische Manifest, das Deutschrap jetzt unbedingt" brauche.

"Hör' nur lelele, dass du auf der Straße chillst, aber weiß nicht, was du mir sagen willst", hält er den Kollegen vor, deren "Schlager-Hits" auch noch beim "Feuilleton-Hipster" Anklang finden. Disarstar pocht darauf, mit seiner öffentlichen Rolle verantwortungsbewusst umzugehen. So erschlägt er den Hörer in "Intro (Balenciaga)" mit relevanten Themen, die ihm auf der Seele brennen: "Wir leben in Zeiten von NSU, Black Lives Matter, die Schere zwischen Arm und Reich geht wie zu erwarten weiter auseinander." Mit dem dazugehörigen Trap-Sound schlägt er seine Gegner mit den eigenen Waffen.

Disarstar vermittelt Missstände zumeist über Kontraste aus den parallel existierenden Realitäten. "Dein Leben 'American Pie', unser Leben 'La Haine'", rappt er durch den elektronischen Nebel von "Sick", um später in die bereits aus der unrühmlichen Liste bester Punchlines von hiphop.de bekannten Zeile überzuleiten: "Dein Chef hat 'n Lambo und zahlt dir 8,50 €, wer ist hier Gangster?" Im schwermütigen "Australien" teilt er seine Generation zwischen Auslandssemester und Minijob ein: "Der Traum geplatzt in der Nachtschicht bei Burger King. Was für Träume verwirklichen?

Am deutlichsten tritt die soziale Ungleichheit selbstverständlich in der Großstadt hervor. "Diese Stadt ist bettelarm und unverschämt reich", beschreibt er seine zweigeteilte Heimat Hamburg im "Großstadtfieber". Wer sich im Spannungsbereich "zwischen pleite sein und Eigenheim" auf der Verliererseite wiederfindet, kann sich dazu verleiten lassen, auf kriminellen Wegen Abhilfe zu schaffen. "Wir holen uns, was wir verdienen", ruft Disarstar in "Touchdown" aus, um sogleich zum nervös-aufgeputschtem Instrumental eine namhafte deutsche Bank zu überfallen.

Persönliche Einblicke wie in "Trauma" nehmen eine eher untergeordnete Rolle ein. "Gegen den Dreck in der Klapse ist der von der Straße wie von 'nem Sternekoch", feiert er an der Seite von Nura die Bewältigung traumatischer Erlebnisse. Dass sich die eine Hälfte des musikalischen Damendoppels SXTN gleich zweifach die Ehre gibt, überrascht nur auf den ersten Blick. Ihr gelang bereits auf "Leben Am Limit" der Spagat zwischen Straßen-Attitüde und Massenkompatibilität. Inzwischen gibt sie in Bettina Böttingers Kölner Treff mit gehaltvollen und privaten Einblicken eine gute Figur ab.

Der geradlinige, aber immer auch etwas monotone Flow Disarstars profitiert zumeist von Gästen. Während Nura dem Depri-Trap Farbe verleiht, überzeugt der noch immer zu unbekannte BOZ auf dem brodelnden Beatgerüst von "Tyler". Dafür durchkreuzt Dazzit mit seiner Autotune-Hook die Bemühung, die düstere Anspannung von "Großstadtfieber" aufrechtzuerhalten. ESO.ES prügelt sich mit seinem aufmerksamkeitsheischenden Schrei-Refrain zwar ins Ohr, befördert den Fremdkörper "24/7" aber auch direkt am Hirn vorbei. In "Le Fin" gelingt dem Sänger ein angenehmerer Auftritt.

Erst mit besagtem Abschluss wird der Hamburger als Mensch wirklich greifbar. Hinter der Anführerfigur der Unterprivilegierten, als die er sich zumeist selbstbewusst in Szene setzt, verbergen sich Reue und Enttäuschungen. Mit "Le Fin" endet ein Album, das eher gesellschaftliche Zustände beschreibt, als dem Titel entsprechend zur Aktion oder gar Gewalt aufzurufen. Dafür geht Disarstar davon aus, dass seine Hoffnung eines gesellschaftlichen Wandels ebenso zum Scheitern verurteilt ist wie damals der Deutsche Oktober: "Ankommen werde ich in diesem Rennen in Wirklichkeit nie."

Trackliste

  1. 1. Intro (Balenciaga)
  2. 2. Sick (mit Dazzit)
  3. 3. Australien
  4. 4. 24/7 (mit ESO.ES)
  5. 5. Trauma (mit Nura)
  6. 6. Großstadtfieber (mit Dazzit)
  7. 7. Verloren (mit Nura)
  8. 8. Nachbarschaft
  9. 9. Touchdown
  10. 10. Tyler (mit BOZ)
  11. 11. Tsunami
  12. 12. Le Fin (mit ESO.ES)

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