laut.de-Kritik

Dieses irre Wechselspiel zieht dich hinab in deine eigene Hölle.

Review von

Irgendwann ist er da, einfach da. Der Moment, in dem Jon Andreas Nödtveidt aus Strömstad weiß, dass das Leben ihm nichts mehr bieten kann – und er ihm auch nicht. Alle Antworten, alle Akkorde, alle Riffs, alle Growls, alle Geschichten sind längst erzählt, alle Arbeit im Sommer 2006 getan. Was zur Hölle soll auch noch folgen, wenn man als Halbstarker einem kleinen, vergessenen Dorf im schwedischen Nirgendwo entfliehen konnte und im großen Göteborg im Kreise grandioser Künstler zur mächtigen Death- und Black Metal-Legende avancierte?

Was soll noch kommen, wenn man als 18-Jähriger 1993 ein epochales Werk erschaffen hat, das sich auf einem metallischen Niveau mit "Number Of The Beast", "Master Of Puppets" oder "Blackwater Park" befindet? Was gibt es nach "The Somberlain" noch zu erreichen? Nach Tracks wie "Black Horizons", der bereits als Opener in acht wahnwitzigen Minuten zwischen Highspeed-Geprügel, spitzen King Diamond-Schreien, Chören und Nu Metal-Midtempo-Rhythmik mal eben das gesamte Melodic-Death-Genre definiert?

Nichts. Anfang der 90er denkt jedoch noch niemand ans Ende. Am wenigsten der ehrgeizige Jon. Stockholm regiert mit Gruppen wie Entombed oder Unleashed den Death Metal weltweit, doch im Nordwesten regt sich künstlerischer Widerstand. Es brodelt in der Szene der Hafenstadt. Leute wie Tomas Lindberg gründen Grotesque und später At The Gates und entwickeln aus brutalstem Grölen, nach vorne walzenden Thrash-Attacken und mitreißenden Melodien einen völlig eignen Stil.

Jon selbst wird mit seinem Mega Mag-Fanzine zum Sprachrohr und Entdecker interessanter Newcomer, zockt in Bands wie Satanized und Rabbits Carrot und zieht mitsamt seiner dritten Truppe Dissection nach Göteborg. 1992 ergattern sie einen Deal mit No Fashion Records und schließen sich ein Jahr später bei Dan Swano im Hellspawn-Studio ein. Der Edge Of Sanity-Gründer legt der blutjungen Band passgenau einen rohen, aber satten, raumlassenden Sound unter die Songs, und im Dezember erscheint das der ermordeten Mayhem-Legende Euronymous gewidmete Debüt "The Somberlain".

Das Genie von Jon Nödtveidt kreischt, grölt und musiziert mächtig aus jeder Rille. Vergleiche mit den großen Songwritern wie Steve Harris oder Joey deMaio liegen nah. Wo genannte Stockholmer früher die Höllenquallen straight vertonten und At The Gates ihre Göttlichkeit eher in Mosh-Riffs packten, sucht und findet Jon neben klassischem Drumgewitter sein Seelenheil in erhabenen Riffs und Breaks, die durchaus an besagte Iron Maiden und Co erinnern. Größenwahn und Genie liegen hier so dicht beisammen wie Pathos und Härte und wirken wie eine Einheit. Und immer wieder tauchen zwischen den klassischen Parts Jons große Melodien in Moll wie das sprichwörtliche, attraktive Böse auf, das als trojanisches Pferd die Seelen der Menschen seit Anbeginn der Zeit verführt.

Im Titeltrack "The Somberlain" fegt die Leadgitarre anfangs sägend, um dann in wildem Doublebass-Headbanging unterzugehen. Zwischen der zweiten und der vierten Minute drosselt Jon dann das Tempo und zaubert wieder süchtig-machende Riffs aus dem Ärmel. Diese irren Wechsel dauern bis zum Ende, verdrehen einem Kopf und Sinne vollends – und hören das gesamte Album über nicht auf. Lyrisch kündigt Jon mit den ersten Zeilen sein Ende jedoch schon an: "I fell deeper and deeper as light now was gone / I could feel the dark embrace my soul / Agony was no more, and so was pain / At this point of solitude I knew I was there... / There where I belong".

"A Land Forlorn" findet neben perfekt-jaulenden Gitarrensoli und tonnenschweren Drums zwischendurch noch einen höllisch groovenden Rock-Beat. Der radikale Individualismus und Ekel vor Schwäche – durchaus verwandt mit der Hardcore-Straight Edge-Attitüde - zeigt sich dabei im Refrain: "We're in the march of profanity / The darkest breed, again well rise / Forth against the flocks of the weak / Well approach a land forlorn". Zwischendurch wiegen einen sanfte, fast barocke Akustik-Pausen wie "Crimson Towers", "Into Infinite Obscurity" oder "Feathers Fell" in trügerischer Sicherheit vor der nächsten Attacke. Denn Dissection kennen kein Erbarmen.

"Heavens Damnation", "Frozen", Jons Energie und Einfälle scheinen unerschöpflich. Nacken, Schultern und Seele brennen mittlerweile, und der Metal-Wirbel zieht einen hinab in die eigene Hölle. Produzent Swanö gibt dann in der Swedish-Death-Bibel von Daniel Ekeroth offen zu: "Von allen Aufnahmen, die ich gemacht habe, bin ich auf das erste Dissection-Album vermutlich am meisten stolz. Jon ist in seinem musikalischen Genre ein Genie. Für mich ist das ein reines Death Metal-Album. Meines Erachtens ist da keine Sekunde Black Metal drauf". Und Meister Dan darf man eh nicht widersprechen.

So setzen sich Dissection 1993 an die Spitze des Göteburg-Sounds und führen diese Variante mit den Briten von Carcass ("Heartwork"), At The Gates und mit Abstrichen Edge Of Sanity zu internationalem Ruhm und Ehre. Gruppen aus der Stadt wie Dark Tranquillity und In Flames lassen sich von Dissection beeinflussen und entwickeln deren Stil später noch erfolgreicher weiter. An die Urgewalt von "The Somberlain" kam jedoch keine Scheibe mehr heran. Auch Dissection nicht. Zwar schenkt Jon 1995 mit "Storm of the Lights Bane" der Welt ein weiteres Meisterwerk – jetzt jedoch tiefer im Black Metal verwurzelt und ohne diese genre-prägende Macht.

Mit dem Schritt zum Black Metal dringt leider auch Nödtveidt immer tiefer in die satanische Philosophie der Misanthropic Luciferian Order-Sekte ein. Als antikosmischer Satanist und Chaos-Gnostiker sieht sich Jon als elitäres Individuum, das allen anderen Menschen überlegen ist und diese Überlegenheit auch ohne Regeln ausleben darf. Selbst frühere Weggefährten wie der ehemalige Emperor- und Thorns-Schlagzeuger Bård Eithun verlassen Dissection 1995 auf Grund von Jons Abdriften nach nur wenigen Wochen wieder. Auch Jons Ende naht.

Im Februar 1998 verurteilt ein Gericht Nödtveidt wegen Waffenbesitzes und Beihilfe zum Mord an Josef Ben Meddaour, einem 38-jährigen homosexuellen Algerier, zu zehn Jahren Haft. Bösewichter haben anscheinend doch Lieder. 2004 wird Nödtveidt auf Bewährung entlassen und versucht mit der Platte "Reinkaos" und noch melodischerem Death Metal ein Dissection-Comeback. Dieses gelingt jedoch nicht wirklich. Am 13. August 2006 bringt Nödtveidt sich um. Ein echter Satanist entscheidet eben selbst, wann es zu Ende geht.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Black Horizons
  2. 2. The Somberlain
  3. 3. Crimson Towers
  4. 4. A Land Forlorn
  5. 5. Heavens Damnation
  6. 6. Frozen
  7. 7. Into Infinite Obscurity
  8. 8. In The Cold Winds Of Nowhere
  9. 9. The Grief Prophecy/Shadows Over A Lost Kingdom
  10. 10. Mistress Of The Bleeding Sorrow
  11. 11. Feathers Fell

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7 Kommentare mit 15 Antworten

  • Vor 7 Jahren

    Ok, ich freue mich Disscection in der Meilensteinkategorie zu sehen aber „Storm of the Light’s Bane“ ist der Meilenstein dieser Band. Dieses Album hat den Melodic Black Metal miterfunden und ist musikalisch gereifter als „The Somberlain“. Die Hinwendung zum Black Metal hat den Lieder mehr Stabilität verliehen, sie wirken weniger chaotisch und in sich geschlossen. Man hat es hier geschafft die überfließende Kreativität des Debuts in geordnete Bahnen zu lenken. Klar das Album ist gut, aber das besser und meilensteinwürdigere Werk bleibt trotzdem der Zweitling. Aber eigentlich bin ich eh der Meinung das alle Dissection Alben gut sind, selbst „Reinkaos“.

    • Vor 7 Jahren

      Fair, aber nix, wirklich nix kommt an Black Horizons ran. 1993!?! Als 18-Jähriger.

    • Vor 7 Jahren

      "Thorns Of Crimson Death". Das ist quasi das remixed and remastered Version von "Black Horizons". Und Das kam gerade mal 2 Jahre später raus. Aber das beste Dissection-Lied bleibt "Retribution/Storm of the Light's Bane"!

    • Vor 7 Jahren

      2 Jahre, in denen in diesem Genre aber die Post abging. Dank Dissection.

    • Vor 7 Jahren

      "The Somberlain" hat bei weitem nicht den Ruf in der Metal Gemeinscheit wie ein "Storm of the Light's Bane". Wenn ein Album dem Zahn der Zeit widerstanden hat, dann Storm.

    • Vor 7 Jahren

      Ich kenne keine Metal Gemeinschaften, mir langt meine Metal Historie, mein Wissen und Liebe zum melodischen Death, meine Liebe zu Somberlain und die Aussagen von schwedischen Death-Legenden (nicht alle hier zitiert). Aber vielleicht kommt hier auch meine Liebe für die Rohheit, die Überraschung eines Debüts ins Spiel - stammt noch aus Hardcore-Zeiten. Dort haben diverse Bands rohe, technisch und soundmäßig nicht ausgefeilte, aber genau daher so süchtig machende Erstlingswerke abgeliefert und dann beim zweiten mit besseren Fähigkeiten krassen, technischen besseren, aber nicht mehr ganz so zerberstenden Sound geschaffen. Cro-Mags, Husker Dü etc.

    • Vor 7 Jahren

      Können wir uns dann darauf einigen, das "Storm of the Light's Bane" aber insgesamt das bedeutendere Album der Band ist? Immerhin haben sie damit die Formel für melodischen Black Metal erschaffen.

    • Vor 7 Jahren

      Messerscharfe Analyse von Anagnorisis.

    • Vor 7 Jahren

      So sieht aus.

  • Vor 7 Jahren

    Rüttelt Johannesberg mittlerweile an der Genfrefremdpalme?