laut.de-Kritik

"Tiny Dancer" löscht alle "Candles In The Wind".

Review von

London im November 1971: Elton John hat gerade die produktivsten zwölf Monate seiner Karriere hinter sich. Innerhalb nur eines Jahres veröffentlicht er drei Studio-LPs und ein Livealbum. Auch den ersten Singlehit ("Your Song") hat er bereits in der Tasche. Die Zeit ist gekommen für ein großes Werk. Die kreative Phase gipfelt in "Madman Across The Water", seinem insgesamt fünften und anmutigsten Album.

Rein kommerziell betrachtet, verzeichnet sein Katalog durchaus spektakulärere Erfolge als diesen Langstreckenläufer. Gleichwohl findet sich dort keine Platte, die von Anfang bis Ende so überzeugt, wie dieser frühe Meilenstein. Alle ebenso besonderen wie typischen Merkmale Johns sind bereits vorhanden. Dennoch ist der "Madman" meilenweit entfernt von der später gehäuft auftretenden Selbstdegradierung zu Supermarkt-Beschallung und Bügelbrett-Soundtracks. Über eine Strecke neun großartiger Lieder definiert er hier Geschmäcker, statt sie lediglich zu bedienen.

Heraus kommt eines der schönsten Alben der 70er Jahre. Es bietet absolute Unterhaltung und totalen Pop, ohne dabei auf den Tiefgang komplexer Arrangements und eine angemessene Singer/Songwriter-Färbung zu verzichten. Der Pianoman zeigt hier deutlich, weshalb er in der Entwicklung populärer Klänge ein gewichtiges Wörtchen mitredete und aus der Musikgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht wegzudenken ist. Obwohl der "Madman" damals von europäischen Medien zunächst deutlich unterschätzt wurde: Kein anderes seiner Alben besitzt eine derart intensive Langzeitwirkung. So unterschiedliche Künstler wie Alice Cooper,John Frusciante, Bon Jovi, Willie Nelson, Bruce Hornsby oder Slipknots Corey Taylor covern hiervon ihre Lieblingssongs.

Das liegt besonders an der ansteckenden Frische und Spielfreude, mit der alle beteiligten agieren. John singt sich voller Inbrunst die Seele aus dem Leib. Er platziert sein ausdrucksvolles Piano oft, aber nicht durchgehend als Leadinstrument. In den Freiraum stoßen seine nicht minder leidenschaftlichen Mitstreiter. Die Bandbesetzung verkörpert zum Großteil das Line-Up seiner klassischen, unerreichten 70er-Kombo. Dazu gesellen sich edle Gäste, die gleichzeitig einen Hauch songdienlichen Individualismus einweben.

Als Anspieltipp hierfür sei das beschwingte "Razor Face" empfohlen. Besonders das Duell zwischen der Gitarre Caleb Quayes und der Orgel Rick Wakemans markiert ein Highlight. Die Unterschiedlichkeit der Musiker ist dabei das Salz in dieser Suppe. Während die Sechssaitige auf dem rechten Kanal zum Ende ein stoisches Solo bringt, flippt Wakemans Orgel auf der linken Seite komplett aus. So erschaffen sie einen sich ergänzenden Kontrast, der auch nach dem hundertsten Hördurchgang nicht langweilt.

Doch kein 'Sir Elton' ohne seinen kongenialen Partner und lebenslangen Haus- und Hoftexter Bernie Taupin. Nach Johns erster recht erfolgreicher US-Tour, auf der der englische Exzentriker Freundschaft mit Iggy Pop schließt und unerkannt als verkleideter Gorilla einen Gig der ahnungslos bedröhnten Stooges entert, schneidert Taupin ihm Zeilen auf den Leib, die sich vorwiegend mit amerikanischen Impressionen Beschäftigen. Ob kryptisch oder als klare Storyline: Taupins ebenso eleganter wie inspirierter Wortschwall krönt die Lieder vortrefflich. Das textliche Niveau liegt weit über gängigen Pop-Lyrik-Mustern.

Zwei Höhepunkte des John'schen Schaffens im allgemeinen und dieser Scheibe im Besonderen muss man hervorheben: Das Titelstück und "Tiny Dancer"! Wer diese beiden zutiefst atmosphärischen Songs hört, löscht dafür gern alle rührseligen "Candles In The Wind" und lässt die eisige "Nikita" in Sibirien stehen. Der 'Wahnsinnige von der andere Seite des Wassers' glänzt dabei als sein unkonventionellster Rocksong überhaupt.

Gestartet als Überbleibsel der "Tumbleweed Connection"-Sessions landet "Madman Across The Water" als ewige Zierde. Ein echter Psychopathen-Track, dessen Bezug bis heute rätselhaft bleibt. Geht es hier um Nixon oder Hitler? Ist der namenlose Verrückte am Ende gar der einzig Sehende in einer irren Gesellschaft? Taupin amüsierte sich stets lächelnd über die verschiedenen Interpretationen, klärte sie indes niemals auf. "Is the nightmare black or are the windows painted?" Wir werden es wohl nie erfahren.

Johns Gesang schwankt hier zwischen gesetzter Ruhe und überschnappender Raserei. Im Verlauf gesellen sich zum tollen Rockarrangement Streicher, die den Wahnsinn perfekt illustrieren. In der Mitte fährt er das Lied komplett herunter, um sogleich zum dramatischen Finale zu rufen. Kein Wunder, dass ausgerechnet Alice Cooper das magische Stück adaptiert und zeitweilig in seine Horrorshow integriert.

Ganz anders die romantische Hymne "Tiny Dancer". Obwohl 1971 nicht gerade ein Chartstürmer, mausert sich die Ballade über die Jahre zum Evergreen und Welthit. Der berühmte Einstieg "Blue Jean Baby, L.A.-Lady, seamstress for the band ..." zu den effektiven Pianoakkorden ist stets unverkennbar. Spätestens der einnehmende Chorus bannt den Hörer vollkommen. Man wird ihn tagelang nicht los. Es existieren zu Recht Dutzende Coverversionen. Populäre Serien, Werbespots, Filme, alle möglichen Formate zitieren die zierliche Tänzerin seit Jahrzehnten. Besonders Cameron Crowes ausführliches Feature in seinem "Almost Famous" beschert ein nachhallendes, weltweites Revival. "Hold me closer, tiny dancer."

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Tiny dancer
  2. 2. Levon
  3. 3. Razor Face
  4. 4. Madman Across The Water
  5. 5. Indian Sunset
  6. 6. Holiday Inn
  7. 7. Rotten Peaches
  8. 8. All The Nasties
  9. 9. Goodbye

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