laut.de-Kritik
Antanzen gegen die Fratze des Kapitalismus.
Review von Dominik KautzMit ihrem sechsten, von Frontmann Rou Reynolds komplett selbst produzierten Album "Nothing Is True & Everything Is Possible" treten Enter Shikari erneut an, um die "wertlosen Grenzen musikalischer Genres" zu hinterfragen. "Wir versuchten, das definitive Shikari-Album zu machen", so der eigene Anspruch beim Bündeln ihrer enormen musikalischen Bandbreite. Die besteht, wie schon beim drei Jahre alten Vorgänger "The Spark", eher wenig aus alten Trancecore-Elementen. Vielmehr fokussiert sie sich auf ein wildes Potpourri aus vielen elektronischen Elementen, Pop und Rock sowie neuerdings auch Ausflügen in die Welt der Klassik. Alles ist eben möglich.
Verarbeitete Sänger Reynolds auf dem Vorgänger inhaltlich noch zu großen Teilen seine inneren Kämpfe, handelt "Nothing Is Real & Everything Is Possible" vom Ankämpfen gegen wuchernde Auswüchse des (neo-)liberalen Kapitalismus' moderner Systeme, "in denen Möglichkeiten an sich von optimistischen Chancen in Richtung von etwas Beängstigendem abdriften". Dazu passen die über einem Keyboardmotiv à la Bon Jovis "Runaway" halb im Falsett gesungenen ersten Worte des Openers "The Great Unknown": "Is this a new beginning? / Or are we close to the end?" Dank stark perkussiver Gitarrenlicks, treibendem Drumming und mitreißendem Gesang im Refrain: ein Einstand nach Maß.
Ebenfalls stark partytauglich gerät das als erste Single ausgekoppelte "{The Dreamer's Hotel}". Die Britpop-artigen Strophen mit verzerrter Bassline im Stile von Muse und der sehr hymnische Refrain inklusive angedeutetem Amen-Break gehen direkt in die Füße und laden Tanzwütige zum Abfeiern ein. Besonderer Clou des Tracks: die Zweiteilung des Textes. Das imaginäre Hotel dient als utopisches Gegenprogramm zur harschen Außenwelt, das am Ende aber wegen Besuchermangels langsam zerfällt, da im alltäglichen Konkurrenz- und Profilierungskampf keiner mehr eincheckt.
Natürlich kommen Enter Shikari beim roten Faden des Albums auch nicht um eine Anklage des alltäglichen Wahnsinns aus Fake News und Anything-Goes herum. Im melancholischen Dreiviertel-Takt "Waltzing Off The Face Of The Earth (I. Crescendo)" postulieren sie deshalb auch anklagend: "You can't trust your eyes / and you only hear lies / our future's been denied / and there's nowhere to hide / now that nothing is true / and everything is possible".
Mit dieser Nummer führen die Engländer erstmals Tuben und Blechbläsersoli ein und bringen somit ein äußerst ungewohntes, aber ungemein belebendes Element ins Spiel. Der zweite Satz "Waltzing Off The Face Of The Earth (II. Piangevole)" behandelt zwar das gleiche Thema, wirkt aufgrund seiner Chöre und seiner glitchartig eingespielten Versatzstücke aber deutlich optimistischer.
Trotz dieser innovativen Vielfalt beinhaltet das Album mit den matten "Crossing The Rubicon" und "The Pressure's On." sowie dem mit seichten Drum'n'Bass-Elementen und Subbässen versehenen "Satellites* *" auch eine Ansammlung von deutlich bremsenden Elektro-Popsongs, die man unbemerkt in jedes Mainstream-Nachmittagsprogramm einschlägiger Radiosender schmuggeln könnte.
Deutlich besser kommt da das zusammengehörige Doppelpack aus dem mit Dub-Elementen versehenen "Modern Living...." und dem etwas kakophonen "Apøcaholics Anonymøus (Main Theme In B Minor)", einer reichlich stimmverzerrten, ironischen Ode an alle Verschwörungstheoretiker, die schon beim bloßen Erahnen einer Katastrophe vor Sensationsgeilheit schwitzige Hände bekommen.
Auch der nächste Doppelpack aus dem zunächst mit ätherischen Jazztrompeten beginnenden, sich dann zu einer Drum'n'Bass- und EDM-lastigen Nummer aufschaukelnden "Marionettes (I. The Discovery Of Strings)" und dem langsameren, schleppenden "Marionettes (II. The Ascent)" überzeugt dank eingängiger Melodien. Das lyrische Element des letztgenannten Tracks sticht ebenfalls heraus. Reynolds hinterfragt in fast predigender Spoken-Word-Manier äußerst metaphorisch sogenannte Wahrheiten, ehe der Song unter dramatischen Streichern mit den eindringlich wiederholten, elegischen Versen "Truth hurts / now you know / truth frees" endet.
Folgend auf die hallgetränkte "Reprise 3", einer kurzen Anspielung auf und die Fortsetzung von den Reprisen ihres 2003er Debütalbums "Take To The Skies", beziehen die Briten dann im stark elektronischen "T.I.N.A." politisch deutlicher Stellung. Die Abkürzung des Songnamens steht für 'There Is No Alternative', der Titel geht zurück auf die englische Premierministerin Margaret Thatcher. Die 'Iron Lady' verwendete diesen bei vielen bis heute verhassten Slogan zu Beginn ihrer Amtszeit, um im Zuge ihrer wirtschaftsliberalen Reformen für den Abbau des Sozialstaates zu agitieren.
"Wir leben in beispiellosen Zeiten. Die Bedrohung katastrophaler Klimaänderungen und die Covid-19-Pandemie zeigen, dass jetzt die Zeit kommt, für großes, tolerantes und mutiges Denken. Wir glauben, dass sich die Menschheit um so vieles besser schlagen kann", verkündet die Band ihre Motivation zu "T.I.N.A.". Dem bleibt nichts hinzuzufügen.
Am stärksten überrascht klar das bombastische, mit dem Prager Sinfonieorchester aufgenommene und vom Soundtrack-Komponisten George Fenton (u.a. "Ghandi", "Und Täglich Grüßt Das Murmeltier", "Mein Name Ist Joe") bearbeitete "Elegy For Extinction". Der komplett orchestrale Song wirkt dabei nicht nur wie Filmmusik, sondern erinnert am Beginn zunächst stark an "Jupiter", im Verlauf dann an "Saturn" aus Gustav Holsts Orchestersuite "Die Planeten".
Der auf dem Album manifest ausgelebte Hang zur musikalischen Ambivalenz kennzeichnet auch "Thē Kĭñg", in dem das lyrische Ich dem eigenen vergangenen Prunk hinterhertrauert. "I used to be the king / but they took me everything / they even sold my crown", heißt es auch direkt im Intro, bevor die Strophen ein kleines Gewitter aus Dubstep und Grime zusammenbrauen, das sich dann in einen deutlich vom Punk getriebenen Refrain entlädt. Sogar ein sanftes, gutturales Schreien schleicht sich hier ein.
Insgesamt liefern Enter Shikari mit "Nothing Is True & Everything Is Possible" zwar nicht den "schillernde[n] Soundtrack für eine neue Dekade", wie die Presseinfo es verspricht. Dafür aber eine kurzweilige Zementierung ihres einzigartigen Eklektizimus ab "Common Dreads". Textlich verliert sich Fronter Reynolds bei seiner Kapitalismuskritik glücklicherweise nicht Phrasen über geschichtliche Ereignisse, sondern beschäftigt sich mit tiefgehenden, intellektuellen Ansichten über das menschliche Handeln. Dabei wirkt er zu keinem Moment plakativ. Vor allem in den energiegeladenen Gigs der Engländer dürften die neuen Songs beim zukünftigen gruppenseligen Agitieren und Antanzen gegen das hässliche Gesicht des Kapitalismus für ordentlich Stimmung sorgen.
8 Kommentare mit 7 Antworten
Man wartet nur darauf, dass sich Leute beschweren, weil das nix mehr mit den Anfängen zu tun hat. Natürlich hat es das nicht mehr wirklich. Und gleichzeitig ist das wirklich genau das definitive Enter Shikari-Album. Eben weil alles erlaubt ist. Und weil auch fast alles funktioniert. Ein spannendes Ding.
Für mich bisher immer erst nach Triple Enter Daiquiri o.ä.
Kurzweilig. Unterschätzte Truppe, die technisch und vom Songwriting her zu den Interessantesten da draußen gehört.
Für mich unhörbar. Und mit dieser Vaporwave-Aesthetik kommen sie auch mindestens fünf Jahre zu spät.
Ja, geht mir ähnlich. Weiß nicht, was daran so "genial" sein soll. Manche Songs sind ganz nett, aber des woars.
Ich glaube, das ist auch schwer zu kapieren. Ich bin tatsächlich Fan der Band seit vielen Jahren. Immer wieder hab ich versucht, Leuten die Gruppe näherzubringen. Die meisten sagen: Was für ein Scheiß. Thema erledigt.
Was ich hier so großartig finde: Es ist so komplett unvorhersehbar. War es bei den Jungs schon immer. Jedes Album ist eine neue Reise; und diesmal ist einfach alles reingeworfen, es gibt wirklich weder Scheuklappen nocht Grenzen. Sicher sind Songs dabei, die nicht zünden oder nur an den Ohren vorbeirauschen...dann hört man wieder rein, gerne auch mit Kopfhörern und entdeckt so viele Details.
Einfach großartig. Aber ganz sicher nichts für Jedermann.
Sorry, meinen Geschmack trifft das mal gar nicht. Viele beliebige bis leider nervige Melodien und Harmonien, nichts bleibt irgendwie hängen oder ist spannend. Die Arrangements klingen viel zu stark nach Formatradio-Pop. Dazu würde vielen Songs (ich hab ab der Hälfte nur noch durchgeskippt, auch innerhalb der Songs, um zu schauen ob da noch was für mich spannendes passiert) ein besserer Aufbau, weniger, dafür aber dosierteres, unterstützenderes einsetzen der elektronischen Elemente guttun. So bruzzelt es hier und zischt es dort, und da klingts kurz nach dubstep, hier mal ne fette Gitarre, dort etwas Trance. Aber es ergibt im Song keinerlei Mehrwert außer Wiedererkennungswert.
Bei dem Marketinggelaber "definitives Shikari-Album" verdreh ich automatisch die Augen, leider wurden meine Erwartungen, mal in die Musik der Band reinzuhören voll enttäuscht.
Genau deswegen, das ist meine Einschätzung, scheint moderne Rockmusik immer mehr nicht statt zu finden. Viel zu viel "Fuck me in the dance Club". Hauptsache die ganzen R&B und sonst was Vögel werden mit eingefangen.
Hauptsache erstmal Fehlschlüsse aus ner spekulativen Hypothese ziehen.
Uii, das sind ja gleich zwei Fehler auf einmal . Enter Harakiri, sag ich da nur.
Wat?
musik für .ashitakas und reavs
Für ashitaka war doch Bloc Party immer die Offenbarung. Ob er das wohl immer noch so sieht?