laut.de-Kritik

Gott liebt dich, aber nicht genug, um dich zu retten.

Review von

Irgendwo unter der brütenden Sommerhitze Kaliforniens surrt verheißungsvoll eine Tiefkühltruhe. In ihr sehnt sich der leblose Körper eines Mädchens nach der spärlich besuchten Sonntagsmesse ihrer Heimatstadt. Ethel Cain, die Tochter eines floridanischen Priesters, zog nach Westen, um dort die Liebe zu finden, doch der amerikanische Traum hat sie verraten. Dieses Album ist ihre Geschichte. Eine Odyssee durch die verdreckte Seele der Südstaaten, bis hin zur Hölle auf Erden im Herz der amerikanischen Freiheit.

"The fate's already fucked me sideways / Swinging by my neck from the family tree": Hayden Silas Anhedönia weiß wovon sie singt. Die Welt, die sie mit ihrem Debüt-Album "Preacher's Daughter" erschafft, ist dieselbe, in der sie groß wurde. Bibeln im Nachttisch, Konföderierten-Flaggen auf der Veranda und Dale Earnhardt-Aufkleber auf der Pick-Up Ladefläche. Sie kennt die hässliche Fratze von Amerika, weiß, was viele Menschen dort über sie denken, wozu Menschen fähig sind und wie lange es dauern kann, die von ihnen gerissenen Wunden wieder gesund zu pflegen.

Ethel Cain, ein Charakter, den sie bereits auf ihrer letztjährigen EP "Inbred" etablierte, dient dafür als Katalysator. Sie bezeichnet Ethel als ihren bösen Zwilling, ein Was-wäre-wenn, hätte sie ihre eigenen Traumata nicht aufgearbeitet. "She is the mirrored version of what my life would be like if I chose not to get better.", verrät sie in einem Interview mit Billboard.

Dieses Szenario entspinnt sie über 75 Minuten in 13 atemberaubend intimen und intensiven Slowcore-Balladen, die Ethels Leben als das einer Frau schildern, die auf der Jagd nach christlichen und amerikanischen Idealen von einem Paar falscher Hände in das nächste gerät. Jedes Mal legen sie sich ein wenig enger um ihre blasse Kehle, bis sie ihr ihren letzten Atemzug entlocken. Das Böse und Düstere, das Hayden ihrem Alter Ego zuschreibt, erhält nur durch die Männer in ihrem Leben Einzug in ihre Seele.

Schon im Opener "American Teenager" beginnt die romantische Americana-Fassade zu bröckeln. Das Instrumental versauert den Pathos seines klassischen Dudebro-Rockriffs mit Dreampop-Synths, während Cain die Erwartungen einer heimattreuen, christlichen Jugend in Suburbia mit satirischen Spitzen untergräbt. ​​"The neighbor's brother came home in a box / But he wanted to go, so maybe it was his fault", singt sie zynisch.

Die Mentalität, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied sei, ist eine Farce, Patriotismus ein Witz und der Tanz auf den Football-Tribünen eine Hollywood-Fantasie. Das Versagen der Elterngeneration verkommt zur Aufgabe ihrer Kinder, die in einem Gefängnis zwischen Nascar und Jesus von vorneherein zum Scheitern verdammt sind. "Say what you want, but say it like you mean it with your fists for once / A long cold war, with your kids at the front": Eine Anklage die tief schneidet und das bittere Fundament dafür legt, was ihr in der Folge widerfahren wird.

Ihr Krieg ist in allererster Linie einer gegen sich selbst, ausgetragen mit den Körpern ihrer Liebhaber. Die eine wirkliche Liebe verlor sie bereits, das macht "A House In Nebraska" deutlich. Mit den Worten "You were the only one I was never afraid to tell I hurt", trauert sie um den einen Mann, bei dem sie nicht davor zurückschreckte das Wort 'Liebe' in den Mund zu nehmen. Später im Album singt sie nur noch "Love never meant much to me". Diese Trennung, die Anhedönia in einem siebenminütigen Epos mit melancholischen Piano-Spiel, verwaschenen Gitarren und pittoresker Postkarten-Poesie bebildert, versetzt einem früh einen tiefen Stich ins Herz. Was danach folgt, füttert diese Wunde nur weiter mit Salz.

Neben den wunderschönen Bildern, derer sich die 24-Jährige bedient, ist es auch ihre Arbeit als alleinige Produzentin, die dieses Album so greifbar und intim klingen lässt. Jedes Arrangement, jede dick aufgetragene Schicht Reverb, jedes Gitarrensolo, jede müde Drumline verschmelzen organisch zu Songs, die sich in bestmöglicher Weise verstaubt und ausgebleicht anfühlen. Wie in einem abgenutzten Tagebuch, dessen Seiten zu zerbrechen drohen, erhalten wir flüchtige und bisweilen unvollständige Einblicke in das längst verblasste Leben einer durch und durch amerikanischen Tragödie.

Anhedönia trägt in ihrer Musik ein ähnlich schweres Kreuz wie es eine Chelsea Wolfe oder eine Lingua Ignota tun, nur entscheidet sie sich dagegen, deren Zugänglichkeit darunter leiden zu lassen. Dennoch: Eine Lana Del Rey, deren Songwriting einen weiteren großen Einfluss dieses Albums darstellt, kann nur davon träumen, solch emotional-greifbare Songs zu schreiben. Der Schmerz dieser Musik ist kein Akt, er ist fest in der Realität verwurzelt.

Das gerät spätestens auf "Hard Times" schwer zu ertragen. Begleitet von einem wehklagenden Banjo und einem Konzert aus Grillen und Zikaden schildert Cain den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater. Man bekommt das Gefühl, etwas zu hören, das nicht für unsere Ohren bestimmt ist. Ohne explizit in ihren Worten zu werden, evoziert sie mühelos Bilder schwüler Sommernächte, in denen nur die Sterne ihrem Klagen ein Ohr leihen.

Ihre Stimme klingt dabei weder wütend, noch besonders traurig, nur müde und sehnsüchtig. Sehnsüchtig nach einem Leben, in der sie sich nicht dafür schämen müsste, immer noch Verbundenheit zu diesem Monster zu verspüren: ​​"I'm tired of you, still tied to me". Dieses Unvermögen, sich vollends von ihrem Peiniger loszusagen, macht den Song gleichermaßen um so mehr menschlich wie auch schmerzhaft. Zu behaupten, er sei ein Schlag in die Magengrube, wäre eine Untertreibung, denn die emotionale Last, die einem Anhehönia damit auflädt, wird man für den Rest der LP (und darüber hinaus) nicht wieder los.

Es kommt unserem eigenen Seelenwohl zugute, dass nach dieser schmerzhaften Beichte erstmals im Verlaufe des Albums Ethels mentale Stärke ihr erlaubt, neue Hoffnung zu fassen. Schon die ersten Sekunden von "Thoroughfare", das in die zweite Hälfte von "Preacher's Daughter" überleitet, blasen die dunklen Wolken für einen Moment wieder vom Firmament. Eine Mundharmonika verleiht dem amerikanischen Freiheitsstreben eine Stimme und entführt uns auf die endlosen Highways von Texas, wo Cain über eine weitere verlorene Seele stolpert, die die zu erlöschen drohende Flamme in ihr wieder entfacht. "You fell in love with America when you were 12 years old", sagt sie ihm nach, doch auf ihrer gemeinsamen Reise gen Westen lässt sie sich von dieser Liebe anstecken.

Im Gegensatz zu der dysfunktionalen Beziehung zu einem Kleinkriminellen, die sie auf "Western Nights" schilderte, vermittelt sie auf dem neunminütigen Centerpiece des Albums ein genuines Gefühl von Glück. Auch wenn sie sich weiterhin der Liebe verwehrt, verrät die Hoffnung in ihrer Stimme etwas anderes: "Cause in your pickup truck with all of your dumb luck is the only place I think I’d ever wanna be". Wenn die Gitarre in der zweiten Hälfte explodiert, spürt man den salzigen Wind des Westküste förmlich in den Haaren. Das anschließende wunderschöne Tamburin-Outro, das Bilder von einer tief stehenden Abendsonne und im Wind tanzenden Weizenhalmen malt, gibt uns eine letzte Möglichkeit diese Glückseligkeit auszukosten.

Die bitterböse Ironie dieser Geschichte liegt nämlich darin, dass genau dieser Mann für den Tod von Ethel Cain verantwortlich sein wird. Der Traum vom Westen ist eine Illusion. "Everythings better way out west", träumte Anhedonia noch letztes Jahr auf "Inbred", die Realität ist eine finstere. Ihr Retter füttert ihr Drogen, bis sie die Kontrolle verliert und zwingt sie in die Prostitution.

"Gibson Girl" wirft uns kopfüber in diesen Alptraum. Die düsteren Synths und jaulenden Gitarrenriffs erinnern ein wenig an die frühen Abgründe eines The Weeknd, und Anhedönia versteht es ausgezeichnet, den Horror dieses Exzesses von der anderen Seite zu bebildern. "Black leather and dark glasses / Pouring another while I shake my ass /He's cold-blooded so it takes more time to bleed", singt sie in einem verführerischen Timbre, dem eine tiefe Traurigkeit innewohnt. Die Hoffnung, die Liebe sind verblasst. Wie fremdgesteuert gibt sie erneut die Kontrolle über ihren Körper ab. Der anschließende Sex ist destruktiv, kalt und gewaltvoll. Als ihre Stimme am Ende einem unheilvollen Dröhnen weicht, ahnt man Schlimmes.

Doch nichts könnte einen auf die Hölle einstimmen, die sie wenig später auf "Ptolemaea" vereinnahmt. Die Rockgitarren verlangsamen mehr und mehr, bis sie beinahe in den Gefilden des Sludge ankommen, das Feedback übersteuert, das Drumming nimmt rituelle Züge an, und die Stimme der 24-Jährigen droht vollends im Reverb zu versinken. Fliegen surren, eine dämonische Stimme flüstert aus dem vernebelten Wahn der Drogen zu ihr. Die Dunkelheit, vor der sie ihr ganzes Leben floh, hat sich ein für alle mal eingeholt: "You poor thing /Sweet, mourning lamb / There's nothing you can do". Ihre Antwort ist die eines in die Enge getriebenen Hundes. Ein Flehen und Bitten aufzuhören, das in seiner verzweifelten Intensität mehr und mehr anschwillt, bis ein schmerzverzerrter Schrei, der einem durch Mark und Bein fährt, dem Ganzen ein Ende setzt. "Stop!" fleht Cain ein letztes Mal, doch ihre Bitte stößt auf taube Ohren.

Der Überlänge vieler Songs dieses Albums gelingt es unglaublich gut, uns noch tiefer in die mühsam aufgerichtete Atmosphäre abtauchen zu lassen, nirgends funktioniert dies jedoch besser als in dem auditiven Horrorfilm, den Anhedönia auf der Klimax der LP über uns herabstürzen lässt. Flackernde Kerzen, wild umherirrende Pupillen, dunkle Schemen und hypnotisch tropfendes Blut: Die Paranoia und die Angst, die ihr Alter Ego angesichts ihres bevorstehendes Endes verspürt, wird erschreckend greifbar. Das Flüstern fühlt sich übergriffig an, wie Wellen brechen die Gitarren an dem paranoiden Chaos, am Ende möchte man duschen gehen.

Den eigentlichen Mord, der diesem Exorzismus folgt, lässt Anhedönia unkommentiert. Die Ambient-Stücke "August Underground" und "Televangelism" überlassen diesen Akt vollends unserer Fantasie. Eine Aufgabe, die angesichts des zermalmenden Dröhnens der in Reverb ertrunkenen Gitarren fast schon zu leicht fällt. "Televangelism" setzt diesem gottlosen Akt glücklicherweise schnell ein Ende und gewährt dem Charakter der Ethel Cain einen sanft bespielten Übergang ins Jenseits, der neben ihrem erfolglosen Patriotismus auch die Bibeltreue von der Cain schon lange abgefallen war, als obsolet erklärt.

Unser Wiedersehen mit Anhedönias engelsgleicher Stimme schmerzt. Auf "Sun Bleached Flies" reflektiert sie in ihren letzten Augenblicken über ein Leben, dessen vorzeitiges Ende unausweichlich schien. Sie sehnt sich nach dem Haus in Nebraska, nach der Kirche und nach der ihr anerzogenen Liebe eines Gottes, der diese Liebe nicht erwidert. "God loves you, but not enough to save you", singt sie voller Trauer. Spätestens an diesem Punkt transzendiert das Album sein fiktives Narrativ und sie spricht auch aus der Perspektive einer christlich erzogenen Transfrau, die in diesen Kreisen nie als vollwertiger Teil der Gemeinschaft, geschweige denn als Mensch gesehen werden wird.

Mit dieser Einsicht geht allerdings auch ein seelischer Befreiungsschlag einher, der sich in einer triumphal aszendierenden Melodie niederschlägt. "I spend my life watching it go by from the sidelines / And God, I've tried, but I think it's about time I put up a fight", verkündet sie, während ihr ein Reigen aus sakralen Synths und euphorischen Drums zujubelt. Ihre Erinnerungen rauschen wie im Kaleidoskop an ihr vorbei und erlauben ihr endlich Frieden zu finden: "If it's meant to be, then it wll be."

Das schließende "Strangers" fungiert als Epilog dieser Geschichte. Wie "American Teenager" zu Beginn, versetzt es die Motive einer stereotypischen Rockhymne mit beißender Zynik. Da liegt sie nun, halb gefroren in der Tiefkühltruhe ihrer Mörders und wird buchstäblich vom amerikanischen Traum aufgefressen. "Am I making you feel sick?", fragt sie spöttisch, während sie ihre Gitarre zu einem letzten manischen Solo aufheulen lässt. Eine Frage, die auch an uns gerichtet ist.

Hayden Anhedönia gelingt mit "Preacher’s Daughter" eines der beeindruckendsten Debüts der letzten Jahre. Die sorgsam errichtete Welt die sie darauf bebildert, fühlt sich so immersiv an, dass die 13 Songs gleichermaßen als Songs, wie auch als kleine Drehbücher unseres Kopfkinos fungieren. Die Geschichte der Ethel Cain ist ein Teil von ihr, ein Geschwür, das sich über die Jahre immer deutlicher in ihrem Unterbewusstsein manifestierte. Die Lossagung davon kommt einem Exorzismus gleich. Einer langen, schwermütigen, schmerzhaften und wunderschönen Zeremonie, deren läuternde Wirkung abhängig macht.

Trackliste

  1. 1. Family Tree (Intro)
  2. 2. American Teenager
  3. 3. A House In Nebraska
  4. 4. Western Nights
  5. 5. Family Tree
  6. 6. Hard Times
  7. 7. Thoroughfare
  8. 8. Gibson Girl
  9. 9. Ptolemaea
  10. 10. August Underground
  11. 11. Televangelism
  12. 12. Sun Bleached Flies
  13. 13. Strangers

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