laut.de-Kritik
Tiefer geht immer.
Review von Dani FrommWenn sie in Rödelheim nicht komplett auf dem Holzweg waren, geht, was grim104 pünktlich zu Halloween in erwartungsvoll aufgehaltene Kinderhände legt, mühelos als das Projekt durch: "Das Grauen, Das Grauen" ist, oh, so hart. Hart, brutal, grausam, und dabei niemals kalt.
Letzteres wirkt einigermaßen paradox, kriecht einem angesichts der intensiven, stellenweise hyperrealistisch genauen Schilderungen doch oft genug der Frost ins Gebein, lässt wieder und wieder das Blut gefrieren. Wenn sich die Eiskristalle gesetzt haben, Schneekugel-Style, können wir ganz vorsichtig anfangen, drüber nachzudenken, was hier gerade passiert ist.
Die Inszenierung als "Graf Grim" im wehendem Wetterfleck, die Bela Lugosi-Ästhetik, spitz zugefeilte Eckzähne auf dem Coverfoto, dazu das Veröffentlichungsdatum ... ach, bitte! Es wirkte im Vorfeld alles ein bisschen über-konzeptioniert. Statt mit der Taschenlampe unterm Kinn aus abgegriffenen Gespenstergeschichten-Heftchen vorzulesen, entfesselt grim104 dann allerdings ein Monster, wie schon lange kein beängstigenderes mehr durch deutsche Rap-Lande schlich.
Wer immer sich da "Boss oder Gott oder King" nennt, sollte es sich gut überlegen, ob er sich wirklich mit diesem Grafen anlegen will. Der krempelt nämlich keineswegs nur den hiesigen Horrorcore auf links, sondern setzt generell neue Maßstäbe für Intensität in Sprache und Vortrag.
grim104 haucht einleitende Worte. In "Gespenster", wenn er sonor ein Gedicht aus einem Kinderbuch deklamiert, oder bei den verzerrten Stimmexperimenten in "This Is Great Evil" zeigt er, dass er auch das stemmen kann. Meist jedoch lässt er seine Stimme komplett überschnappen: das Vokal-Pendent zu bis aufs Weiße verdrehten Augäpfeln. Wer wollte, wer könnte auch schon straight geradeaus gucken, wenn überall der real existierende alltägliche Horror ins Blickfeld springt?
"Das Grauen" erzählt von sich über die Jahre wandelnden Schrecken. Fürchtete man als Kind noch den bösen Mann im dunklen Wald, bringen später ganz andere Dinge die Knie zum Schlackern, das drohende Gespräch mit dem Arzt etwa, die Angst vor dem eigenen körperlichen und geistigen Verfall. Die Ungeheuer sind neu, kleiner oder weniger gefährlich erscheinen sie deswegen noch lange nicht.
"Hölle" spiegelt die Abgründe auf den Straßen Berlins. Wer glaubt, hier schon den Tiefpunkt menschlicher Existenz erreicht zu haben, den entführt grim104 wenig später durch die Geheimtür aus dem stylisch-weißen Wohnzimmer ("Ratten Im Gemäuer") erst hinter die glänzenden Fassaden, dann hinunter, hinein in die Eingeweide der Großstadt, in die U-Bahnschächte und die Kanalisation "Unter Der Stadt". Tiefer geht immer.
Schrammten die Schilderungen in "Hölle" schon hart an der Unerträglichkeit entlang, treibt "Abel '19" die Anschaulichkeit wenig später auf die Spitze, so plakativ und schmerzhaft, es lässt sich kaum aushalten. Aus der Perspektive des am Boden liegenden Opfers erleben wir zwei Minuten mit - seine letzten, der Protagonist wird soeben zu Tode geprügelt. Das ganze Ausmaß von Verzweiflung, Ohnmacht, Wut, Rat- und Hilflosigkeit (buchstäblich: niemand hilft!), das in diesem Track steckt, gehört mit weitem Abstand zum Härtesten, das ich nicht nur im Rap, sondern in deutschsprachigen Texten überhaupt je gehört habe.
grim104 besitzt zweifellos eine überbordende Fantasie. Um "Das Grauen, Das Grauen" zu beschreiben, braucht er die aber meist gar nicht. Dafür genügt es, genau hinzuschauen. Berliner Nächte sind dunkel genug, und wahrhaft voller Schrecken, "die ganze Stadt ein Spukschloss", durch das einsam und berührungslos ein "Geist" neben dem anderen herschwirrt.
Die musikalische Umsetzung illustriert und verstärkt die düsteren Stimmungen, die die Worte wecken. Hauptsächlich Silkersoft, außerdem Kenji451 und BLVTH erledigen echte Höllenjobs. Fies grummelnde Töne wühlen im Gedärm, Bässe prügeln unbarmherzig voran. Grelle Schlaglichter blitzen in "Unter Der Stadt" auf, während aus Sprache erst Gemurmel, dann Gekrächze, dann Gekratze wird. "Geist" klingt mit seinen Wortfetzen, dem allgegenwärtigen Wispern und Zwitschern genau so ätherisch und schwer greifbar, wie es sein Titel suggeriert.
"Wir kommen aus dem Nichts, gehen in das Nichts, dazwischen kurz Licht, aber mehr ist da nicht", beschreibt der letzte Track, für den Kosmonaut "Juri Gagarin" Pate steht, das Leben als trostlose Blitzlicht-Momentaufnahme eines Trümmerfelds zwischen Nacht und Finsternis. Alles ist nichts, nur Zufall und Chaos. Es wäre komplett hoffnungslos, gäbe es nicht noch Musik, die einen auf einer hochgradig verkopften Ebene einer-, tief, tief im Unterbewusstsein andererseits so fies berührt: wahnsinnig gut.
16 Kommentare mit 6 Antworten
Habs 1 Mal durch und bin baff. "Abel '19" hat in mir was ausgelöst. Was schauriges.
richtig geil! höre seit stunden geist in dauerschleife
Dieser Kommentar wurde vor 3 Jahren durch den Autor entfernt.
Danke für dieses deutliche Stück Musik.
Mein persönliches Highlight ist "Juri Gagarin", tolle Bilder, so passende wie schöne Musik und sehr hübsch eingewobene Justus-Referenz.
Ansonsten ist Horrorcore nicht unbedingt meine Abteilung und auch auf diesem Album finde ich nicht alles gut. Aber er dass hiermit Leuten wie Basstard mal eben im Vorbeigehen eine ziemlich hohe Messlatte gelegt hat, glaube ich auch.
Gerade erst auf dieses Album gestoßen beim Hören von Imperium. Grim104 ist - ich finde keine Worte. Danke für die Rezension, die nimmt mir das ab. WAS FÜR EIN beängstigender HAMMER. Wie exakt beschrieben. Es ist genau so. Wo sind wir hingekommen und wo wird es enden.