laut.de-Kritik
Mit Herzschmerz durch die Jahrzehnte.
Review von Karina SadkovWelche Art von Künstlerin wäre Halsey, wenn sie in verschiedenen Jahrzehnten gelebt hätte? Auf ihrem konfessionellen Konzeptalbum "The Great Impersonator" geht sie dieser Frage auf den Grund. Während wir mit ihren Klängen seit den 2010ern vertraut sind, zeigt sie uns nun, wie sie sich in den 70ern, 80ern, 90ern und 2000ern angehört hätte. Es ist eine Reise durch Zeit und Schicksal, bei der sie sich fragt, ob sie bei jeder neuen musikalischen Inkarnation immer noch die gleiche Halsey bleibt. Emotional entblößt, nimmt sie uns mit auf diesen faszinierenden Weg und lässt uns an ihrer tiefen Auseinandersetzung mit Identität und Veränderung teilhaben.
Während "Badlands" Halsey als Künstlerin vorgestellt hat, zeigte "Manic" wer die gebürtige Ashley Frangipane wirklich ist. Ihr fünftes Studioalbum "The Great Impersonator" vereint somit die intime, persönliche Energie von "Manic" mit dem starken Selbstbewusstsein von "Badlands". Diese spannende Mischung zieht sich durch jede Zeile und jeden Beat und macht das Album zu einem fesselnden Erlebnis.
Die Sängerin ließ es sich nicht nehmen, den Release ihres Albums mit einem besonderen Countdown einzuläuten. 18 Tage lang, passend zur Anzahl der Tracks auf der Platte, veröffentlichte sie täglich einen neuen Song-Teaser. Jeder Teaser ging Hand in Hand mit einer stilvollen Hommage an die Künstler:innen, die hinter den jeweiligen Einflüssen stehen. Ein cleverer Schachzug, der nicht nur Vorfreude schürt, sondern auch einen tiefen Einblick in ihre musikalische Inspirationsquelle gewährt.
Mit "Only Living Girl in LA" schlägt Halsey die ersten Töne ihres Albums an – ein minimalistischer Akustik-Track, der sich nach und nach zu einem dicht verwobenen Arrangement aus Synthesizern und Drums steigert. Die Produktion verleiht dem Song besondere Tiefe durch subtile Details: Nach der Zeile "Do you think they'd laugh at how I die?" klingt ein kurzes Lachen auf, und eine Bahnhofsdurchsage verkündet "This is Halsey St". So entsteht die Frage, ob Halsey und Ashley tatsächlich vereint sind – oder ob die Künstleridentität nur eine Station auf ihrer Lebensreise ist. Die Instrumentierung unterstreicht ihre existenziellen Ängste, die sie auch textlich auf den Punkt bringt: "I wake up every day in some new kind of suffering / I've never known a day of peace". Die Zeilen spiegeln Halseys persönliche Kämpfe wider. Während des Schreibprozesses erhielt sie die Diagnosen Lupus und Leukämie, zusätzlich zu ihrer Bipolaren Störung und der chronischen Erkrankung Endometriose, über die sie bereits zuvor öffentlich gesprochen hatte.
Somit wurde das Album in einer Phase zwischen Leben und Tod geschrieben. Selbst Halsey dachte, dass dies ihr letztes Album würde. Die meisten Tracks greifen diese Themen auf, doch mit "The End" läutet sie eindrucksvoll ihre neue Ära ein und teilt ihre Diagnosen mit der Welt. In passender Weise eröffnet der Song im Stil der 70er, wobei der Einfluss von Joni Mitchell klar hörbar ist. Der traurige Akustik Song beginnt direkt mit den Lines "Every couple of years now, a doctor says I'm sick" und wird nach wenigen Sekunden mit "And at first, it was my brain, then a skeleton in pain" fortgeführt.
In "Lucky" geht es darum, wie das Leben von Stars bis ins kleinste Detail kommentiert wird – von ihren Taten bis hin zu ihrem Aussehen. Die Lyrics spiegeln das typische Gerede wider, das auch Halseys äußere Erscheinung umgibt, jedoch ohne Rücksicht auf ihre aktuellen Diagnosen. Diese oberflächliche Perspektive zementiert das Bild von Promis als gottgleichen, makellosen Wesen. Mit dem Sample von Britney Spears' "Lucky" setzt Halsey ein starkes Statement: Sie übernimmt den Refrain komplett und wechselt die Perspektive in die Ich-Form. Spears' Song erzählt die Geschichte einer Schauspielerin, die zwar Ruhm, Schönheit und Reichtum besitzt, sich aber dennoch verloren und einsam fühlt – ein Echo auf die Schattenseiten des Starseins.
Halsey beschäftigt sich in "The Great Impersonator" auch damit, wie der gleiche Song in verschiedenen Jahrzehnten klingen würde. Dabei ließ sie sich von Cher, Bruce Springsteen und Aaliyah inspirieren. "Letter to God (1974)" taucht mit einer sanften Melodie nostalgisch in die Unschuld der Kindheit ein, in der sie sich wünscht, krank zu sein, um Aufmerksamkeit zu bekommen und geliebt zu werden. Mit "Letter to God (1983)" wechselt der Fokus: Halsey zeigt eine reifere Sichtweise, in der die Herausforderungen des Erwachsenwerdens ins Spiel kommen. Der nachdenkliche Ton wird von einer energischeren Musik begleitet, die die inneren Konflikte dieser Phase betont. In der letzten Version "Letter to God (1998)" präsentiert Halsey eine moderne, kraftvolle Klangästhetik, die ihren Weg durch die Versionen reflektiert. Hier stehen persönliches Wachstum und der Wunsch, mit ihrem geliebten Sohn zusammen zu sein, im Vordergrund.
"I Believe in Magic" ist ein berührender Liebesbrief an ihre Mutter und ihren Sohn. Langsam begleitet von einer Akustik-Gitarre werden Gespräche zwischen ihr und ihrem Sohn eingeflochten, die bei mir auf die Tränendrüsen drücken. In der Zeile "I wonder if the world will treat him any better than it treated me" schwingt die Sorge mit, dass ihr Kind mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert wird. Sie möchte, dass er aus ihren Fehlern lernt. Einer dieser Fehler ist, dass sie mehr Mitgefühl mit ihrer Mutter hätte zeigen sollen, da sich ihr Leben nahezu identisch zu dem ihrer Mutter entwickelt hat. Die Anspielung auf Madonnas ikonischen Song "Papa Don't Preach" von 1986, ausgedrückt in der Zeile "But papa, don't you preach", ist eine direkte Anerkennung und verbindet beide Werke thematisch. Beide Lieder thematisieren das gesellschaftliche Urteil, das Frauen in Bezug auf ihre Entscheidungen rund um Schwangerschaft und Kinderbetreuung trifft.
Hoch emotional geht es weiter mit "Life of the Spider (Draft)". Halseys Schmerz ist förmlich greifbar und geht direkt ins Herz. Intimität wird hier großgeschrieben: Ihre rohen Vocals, begleitet von einem melancholischen Klavier, schaffen eine Atmosphäre, in der man fast das Gefühl hat, ungebeten an ihrer Verletzlichkeit teilzuhaben. Sie sieht sich selbst als unerwünschte Spinne, die ihr Partner am liebsten loswerden würde. Krank und dem Tod nahe, beschreibt sie das Gefühl, unerwünscht zu sein, mit den Worten: "And you jump at the sight of me / You'll kill me when I least expect it." Die düsteren Zeilen lassen keinen Zweifel an der Schwere ihrer Situation.
"The Great Impersonator" zeigt Halseys Experimentierfreude, doch ein Jahrzehnt beherrscht sie eindeutig – die 90er. Schon beim ersten Hören sticht "Arsonist" heraus und erinnert an Fiona Apple. Der eindringliche Sound, unterlegt mit einem Hip Hop-Beat, und Halseys effektüberlagerten Gesang erzeugen eine ätherische, fast schon dämonische Atmosphäre. Dadurch entsteht ein fiktives Bild, als wäre man von Feuer umzingelt. Mit dem grungigen Rock-Track "Dog Years" bleibt Halsey dem dunklen Sound treu: "You know a mercy kill is what I seek / I didn't ask to live, but dying's up to me". Und auch "Lonely is the Muse" erkundet das Alleinsein im Rock-Stil. Ihr lyrisches Talent glänzt in diesen Tracks und zeichnet sich durch ein einzigartiges Storytelling voller Metaphern aus.
"The Great Impersonator" ist tatsächlich Halseys erster Titeltrack, und der hat es in sich. Während des Albums offenbart sie ihr authentisches Selbst, doch der Titeltrack bringt es auf den Punkt. Mit der Zeile "Hope they spell my name right in the paper" spielt sie auf die Dualität ihrer Identität an: Ashley versus Halsey. Bei genauerer Betrachtung erkennt man, dass Halsey ein Anagramm von Ashley ist. Sie wünscht sich, im Tod als ihr wahres Ich in Erinnerung zu bleiben. Im Kontrast dazu ist die Produktion des Liedes lebhaft, geprägt von ihrem Gesang, Klavier und Zupfinstrumenten.
Vom Sound her kommt sie leider nicht an "If I Can’t Have Love, I Want Power" ran, jedoch ist sie in "The Great Impersonator" so ehrlich wie noch nie. Ihre komplexe Lyrik erschafft eine durchdringende Stimmung, die trotz der wiederholenden Themen einen immer wieder aufs Neue trifft.
2 Kommentare
"Vom Sound her kommt sie leider nicht an "If I Can’t Have Love, I Want Power" ran".
Eine Reznor-Produktion bleibt eben eine Reznor-Produktion. Finde es dennoch gut, dass sie ein Stück dieses Sounds auf das Album gerettet hat und als Konterpunkt zum Bubble-Gum-Pop setzt.
Bisserl arg viel häßlich Autotune, schade. Machts immer etwas unpersönlich. Kann man sich aber geben, und wie n typisches Produzentenopfer wirkt sie auch nicht.