laut.de-Kritik

Ein Album zwischen Rave und Afterhour.

Review von

Die Existenz von Hannah Diamond markiert für das britische Electro-Pop-Label PC Music nicht weniger als eine Zukunftsvision: Den Abschied von experimenteller Musik mit viel Britney Spears-Worship. Hannah ist der Prototyp des Popstars der Zukunft, das Modell, nach dem sich seit 2015 die Spätphasen der Karrieren von Charli XCX, Kim Petras oder Dorian Electra orientieren. Ihr Cyberspace-Absurdismus feierte aber nie Mainstream-Erfolg, da die Musik für die Charts weiterhin zu Avantgarde bleibt. "Reflections" belegt, dass Hannah Diamond nicht der Megastar der Zukunft, sondern einer Parallelwelt ist, in der Raves das zentrale Stück allen Musikkonsums ist und Rockmusik nie existierte.

Direkt ins Auge fällt das detailverliebte und beständig außergewöhnliche Sounddesign. Die retrofuturistischen Synthesizer, die mit melancholischen Ambient-Pattern auf Nummern wie "Never Again" oder "Reflections" einstimmen, klingen, als würde der letzte Roboter die Erde aufräumen. Das Album spielt weiter mit dem Uncanny Valley, mit der Entfremdung einer menschlichen Performerin im Flirt mit AI-Ästhetik und künstlicher Intelligenz.

Statt sich nämlich auf die sonstigen Themen des Pop-Zirkus mit der erwarteten Abgeklärtheit zu nähern, schlägt aus den Performances von Diamond eher bahnbrechende Naivität heraus. Man könnte es Mittelstufenpoesie nennen, aber würde lügen, denn Mittelstufenpoesie würde versuchen, die eigene Unerfahrenheit mit der Welt zu verbergen. Songs wie "Shy" und "Invisible" dagegen suhlen sich in der zur Schau gestellten Naivität der Performerin.

So fühlt sich Hannah Diamond auf dieser Platte wie ein Alien an, das vor zwei Jahren auf der Erde gelandet ist und erst nach und nach heraus findet, wie die Dinge hier laufen. Ein Effekt, der wunderbar im Tandem mit der nostalgischen, trotz aller Künstlichkeit warmen Produktion funktioniert. Die ersten Songs bleiben in Form von ätherischen Balladen Kyrokammermusik mit schwer zu deutender emotionaler Tiefe.

Wenn die Platte dann ab der Hälfte an Tempo aufnimmt, spinnt sich eine spannende Dramaturgie um Songs, die sehr direkt mit elektronischen Subkulturen kokettieren. Ein weiterer Kontrast zu herkömmlichen Popstars ist, dass Diamond, statt Chorus und Strophe zur Kernessenz ihrer musikalischen Konzeption zu machen, eher ein Auf und Ab um Drops und Rises kreiert.

Dies wird nirgends deutlicher als auf den beiden Bangern "Concrete Angel" und "Fade Away". Ersterer steigt balladesk in psychedelische Synth-Ambience ein und explodiert dann in einen minimalistischen Gabber-Beat. Ein Element, das man so nicht unbedingt hätte kommen sehen, aber eine von vielen Referenzen auf die britische Club-Szene um das PC Music-Camp. Genauso ahnt man Reste von Drum'n'Bass und Jungle in der bubbligen, SOPHIE-esken Produktion von "Fade Away", das einmal mehr virtuos verschiedene Songpassagen in ein homogenes Gesamtprodukt verschmilzt. Bubblegum Bass, der so poliert auch von einem Zedd hätte stammen können. Nur musikalisch ist es dafür eben zu interessant.

Man muss von einer Welt, in der Hannah Diamond der Popstar der Zeit ist, auch einmal träumen dürfen. Nicht nur, weil ihre Musik wundervoll emanzipiert von obsoloten Standards und Relikten popmusikalischer Tradition ist, sondern auch, weil sie die dadurch freigewordenen Leerstellen brillant mit Elementen aus tatsächlich visionären Subkulturen auffüllt. Es ist ein Album zwischen Rave und Afterhour, futuristisch und nostalgisch zugleich, das zwar – wenn es auch nicht an dessen schmissigste Momente herankommt – die Eindringlichkeit und Ästhetik von Charli XCXs Meisterwerk "Pop 2" noch radikaler, reduzierter und weitergedacht ausdrückt.

Trackliste

  1. 1. Reflections
  2. 2. Invisible
  3. 3. Love Goes On
  4. 4. Never Again
  5. 5. True
  6. 6. Concrete Angel
  7. 7. The Ending
  8. 8. Shy
  9. 9. Fade Away
  10. 10. Make Believe

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