laut.de-Kritik
Eine Girlgroup ohne Boring-Verse-Syndrom.
Review von Yannik GölzWir schreiben die vierte Generation K-Pop und keine Gruppe hat Erwartungen bisher so sehr übertroffen wie IVE. Das Sextett von Starship Entertainment hatte zwar einen gewissen Hype, weil Wonyoung und Yujin von der irre erfolgreichen temporären Gruppe Iz*One hier nochmal debütieren konnten. Aber trotzdem gehören sie nun zu einer Company, die bisher eher solides Mittelfeld gespielt haben. Dann droppten sie "Eleven", "Love Dive" und "After Like" und spielen plötzlich Champions League durch und durch – auch wenn ihr erstes Album die Brillanz dieser frühen Singles nicht ganz halten kann, zeigt sie eine elegante Balance aus Opulenz und Understatement.
Der Titeltrack "I Am" funktioniert dabei als Mission Statement. Man denke einmal an diese neue Ära Popmusik, in der alles eine Ecke kleiner und roher ist, authentischer, organischer selbstgemachter: "I Am" ist das nicht. Dieser Song ist das polare Gegenteil von Lo-Fi. Jeder einzelne Synthesizer klingt wie ein Markenprodukt, jede Vocal-Spur wird so tight und kristallin an ihren perfekten Spot vakuumversiegelt: Der ganze Song klingt wie originalverpackt.
Dass dazu jeder Part mit wirklich anspruchsvollen und harmonisch toll zusammengestellten Melodien arbeitet, lässt es trotzdem lebendig wirken. IVE und ihr Producer-Team haben ein beachtliches Talent dafür, jede Passage eines Songs wirken zu lassen, wie die besten K-Pop-Songs kennen sie kein Boring-Verse-Syndrom, trotzdem gleiten die Strophen in den Pre-Chours und der in den Refrain, dass keine Langeweile aufkommt. Wenn sie in der Bridge dann das "1,2,3 – 1,2,3 – 1,2,3 – Fire!" auspacken und einen bombastischen letzten Refrain auffahren, kann man die Pop-Goodness hiervon kaum leugnen.
Die andere Single sagte das eigentlich voraus: "Kitsch" ist ihr Versuch, potentielle Kritik abzuwehren. Der Song setzt dabei auf Stilbruch. Brave, biedere Bubblegum-Strophen in einen stampfenden, schroffen Anti-Drop. Es ist weniger gelungenes Gesamtwerk als es ihre anderen Singles bisher waren, aber ein Statement-Piece und geht so schnell auf jeden Fall auch nicht aus dem Kopf. Die Produktion von Ryan Jhun weiß genau, wo die starken Momente liegen, leisten dann aber die eben noch gelobte Präzision in jedem Verse leider nicht so ganz. Es erinnert ein bisschen an Somis "Dumb Dumb", das auch eine relativ banale Vorlage für einen sehr coolen Drop aufbaut.
Nun ist interessant, dass wir es nicht mit dem typischen K-Pop-Mini-Format zu tun haben, in dem man alles abseits der Singles eigentlich vernachlässigen kann, sondern tatsächlich ein regelrechtes Album. Wie viele der guten K-Pop-Releases haben sich IVE dabei auch für einen kohärenten Sound entschieden und man muss "I've IVE" dabei lassen, dass es den auch sehr stimmig durchzieht. "I Am" ist dabei Mikrokosmos und Highlight in einem, denn die kristallinen, sehr klaren Synths mit einem ganz leichten Einschlag in Richtung europäischen Technos passen zur Gruppe.
Gleichzeitig merkt man doch, dass IVEs Stärke als Girlgroup bislang eher Sound-Design und Vocals waren, denn sobald man sich auch nur halb daran sattgehört hat, was sie hier eigentlich tun, wirken viele der B-Seiten ein bisschen so, als würde man lieber den Titeltrack hören. "Blue Blood" hält mit, es dippt die Füße in einen ähnlich vage orientalisch klingendes Sound-Konzept wie "Eleven", aber findet einen starken Groove. Es sind die Songs hintenraus, Titel wie "Lips", "Heroine" oder "Next Page", denen der Sprit ausgeht.
IVE weiß ganz genau, wie man Musik macht, die erstmal niemanden so richtig verschreckt – und wenn sie dann den Anspruch des großen Refrains nicht haben, sind die anderen Songs klein und cute. Parfümerie-Pop, die Sorte unanstößige Musik, die in Korea aus den Kaufhäusern quillt, auf Lautstärken erhöht, die ein Song wie "Cherish" einfach nicht annehmen sollte. Es ist Musik, die Werbepartner glücklich stimmen soll, solide genug, aber zunehmend monoton. Es fehlt eben irgendwo doch der Funke Persönlichkeit, um das ganze Tape lebendig zu halten. Einen positiven Moment gibt es aber immerhin mit "Not Your Girl", der so offensiv girly und synthpoppig klingt, als hätte man für einen kurzen Moment "Emotion Side B"-Carly Rae Jepsen kanalisiert.
Das Ding mit IVE ist, dass sie von Haus aus ein großartiges klangliches Konzept haben. Ihre Musik klingt wertig, detailverliebt und eingängig. Es ist ein Kontrast zum im Moment stattfindenden Lo-Fi-Pop, es ist maximalistisch, aber in Abgrenzung zu anderem K-Pop nicht besonders überkandidelt. Das macht es vermutlich für beide Fronten irgendwo erfrischend. Ihre Performance funktioniert da ein wenig wie bei richtig guten Models, die Dinge so natürlich aussehen lassen, dass man vom Modeln kaum etwas merkt. Für ein paar Songs wirken sie dann wie die absolute Übermacht, aber auf Albumlänge haben die Ideen und die Präsenz noch nicht zu 100% gereicht. Dass sie trotzdem zu den derzeit aufregendsten und effizientesten Single-Artists der K-Pop-Szene gehören, das beweist nicht nur ihr Erfolg.
Noch keine Kommentare