laut.de-Kritik
Selten klang Synthiepop so voller Lebensfreude.
Review von Michael SchuhSpricht man in Gegenwart von Nicola Sirkis von Indochine als einer 80er-Band reagiert der Sänger unwirsch. Die Konnotation ist klar: Damals erfolgreich, heute nur noch ein Nostalgie-Act. Dies trifft auf die Band des Sängers sicherlich nicht zu, in ihrer Heimat Frankreich zählen sie heute zu den berühmtesten Pop-Bands und füllen seit Jahren Stadien. Aber dieser Text erscheint in Deutschland, Indochine sind nicht Noir Desir oder Manu Chao, sondern eine Band, die 2015 ihr erstes und letztes Konzert bei uns gespielt hat, im Berliner Postbahnhof, vermutlich auch noch gefördert vom Kulturreferat der französischen Botschaft.
Deshalb sei mir der Satz gestattet: Indochine sind eine 80er-Band. Damals komponierten sie ihre bekanntesten Songs, die kurioserweise nicht den Sprung über die Grenze schafften. In Frankreich rollte man ihnen den Teppich aus, das Quartett wurde so inbrünstig vergöttert wie im Folgejahrzehnt zeitgeistbedingt verachtet. Hier soll es um das dritte Album "3" gehen, erschienen genau in der Mitte des Jahrzehnts. Es beinhaltet gleich vier Songs, die zu den größten Hits der Gruppe gehören. Wobei sie natürlich einige mehr hatten, vor allem in den letzten 20 Jahren, wie Sirkis nun einwerfen würde, und er hätte Recht. Weiß hier halt niemand. Doch warum soll man als verwöhnter Superstar mit 61 auch Songs verteidigen, die man mit 25 geschrieben hat? Dafür sind wir ja da.
"3" enthält vier Singles, aber doppelt so viele Hits. Es ist auf schauerliche Weise faszinierend, dass Ariola damals offenbar nicht einmal versucht hat, angesichts eines Songs wie "Canary Bay" hierzulande die French Invasion, pardon, die Invasion française loszutreten. Synthiepop war 1985 ja jetzt nicht gerade unpopulär. Teenager von Kiel bis Kaufbeuren hätten allein wegen dieses Songs vielleicht so enthusiastisch Französisch gelernt wie die Franzosen später dank Rammstein Deutsch. Manches wäre selbst ohne Unterricht gegangen: "C'est à Canary Bay! Ou! Ou!" Aber auf französischen Texten lag im deutschen Pop-Business ein Fluch, gebannt erst zwei Jahre später durch France Galls "Ella, Elle L'A". Vielleicht hätten Indochine vorher auch besser den Grand Prix gewonnen.
Stattdessen singt Sirkis über Eskapismus, Ängste, Romantik und Sex und macht seine Gruppe damit zu Helden einer neuen Generation. Nicht nur klingt ihr Sound moderner als jener der französischen Stones-Kopie Téléphone, sie sehen auch besser aus. Make-Up, weite Hemden, Lederjacken: Indochine stylen sich wie ihre Vorbilder The Cure und Depeche Mode und sorgen mit britisch angehauchtem Synthiepop für den dringend benötigten frischen Wind in der verkrusteten französischen Musikszene.
Inhaltlich sticht der Opener "3e Sexe" heraus: Indochine thematisieren Geschlechteridentitäten und singen für sexuelle Freiheit. Konservative rümpfen die Nase, auch im alternden Musikjournalismus, die Jugend dagegen feiert die Hymne für Ausgegrenzte, die Sirkis' Vorliebe für David Bowie und Patti Smith widerspiegelt. "Et on se prend la main / une fille au masculin / un garcon au féminin": Den infektiösen Refrain unterstützt das Saxofon (Dimitri Bodianski ist einzig für dieses Instrument zuständig), das als Echo auf Sirkis' Zeilen fungiert und etwas Duran Duran-Feeling versprüht.
Trotz musikalischer Parallelen klingt Nicolas Stimme weder mächtig wie Dave Gahans noch zerbrechlich wie Robert Smiths. Er keift die Texte eher, seine Stimme überschlägt sich gern und zwischendurch erlaubt er sich auch mal "Hey, Hey"-Anfeuerungsrufe, als sei man auf einem Bon Jovi-Konzert. Ins schon erwähnte "Canary Bay" integriert die Band eine Chor-Sektion mit Percussion-Solo, bevor mit "Monte Christo" der erste Song kommt, der nicht als Single ausgekoppelt wurde. Merken würde es keiner.
In "Salômbo" spielen sie zu Beginn noch einmal mit fernöstlicher Melodik und spannen einen Faden zum '83er Album "Le Peril Jaune", danach ergibt sich der Song der Melancholie, ohne dabei an Theatralik einzubüßen. Ebenfalls herausragend (und die dritte Single): "A L'Assaut (Des Ombres Sur L'O)" mit Dominique Nicholas' so simplem wie effizientem Riffing, das sich an die tanzbaren Beats klettet, während sich Sirkis' Gesangsmelodie wie so oft auf Anhieb mitpfeifen lässt - der Refrain eine Lehrstunde in mitreißendem Weltschmerz-Pop.
Warum man das nachdenkliche "Tes Yeux Noirs" als Single auskoppelt, wenn man auch "Trois Nuits Par Semaine" hätte haben können, erschließt sich zwar nicht, dafür meldete Chanson-Legende Serge Gainsbourg sein Interesse als Videoregisseur an. 1985 wollte einfach jeder ein Stück vom Indochine-Kuchen abbekommen.
"3" markiert den vorläufigen kommerziellen Höhepunkt der Gruppe. Bejubelt in Kanada, Vietnam und Südamerika, verfällt Nicolas' Zwillingsbruder Stéphane (Keyboard, Gitarre) Alkohol und Drogen. Spätrömische Dekadenz hält Einzug. Auf den folgenden Platten verliert das Songwriting-Duo Dominique Nicolas (Musik) und Nicola Sirkis (Texte) im Streben nach stilistischer Veränderung sein intuitives Verständnis für perfekten Drei-Minuten-Pop, die französische Presse kanzelt sie zunehmend als The Cure-Kopisten ab. Davon unbeeindruckt, veröffentlichen Indochine 1990 ein Album namens "Le Baiser" ("Der Kuss"), eine Thematik, die Robert Smith drei Jahre zuvor auf "Kiss Me Kiss Me Kiss Me" ausufernd beackerte.
Mitte der 90er steigt Komponist Nicolas im Streit aus, 1999 stirbt Stéphane Sirkis im Alter von 39 Jahren an Hepatitis. 2002 feiern Indochine mit Sänger Nicola als letztem Mitglied der Originalbesetzung ein großes Comeback und gelten seither als Nationalheiligtum. Die Zeitung Le Monde nannte ihn vor Jahren den "Peter Pan des Gothic". Doch auch dieser Zuschreibung entwindet sich der Sänger nach seinem 60. Geburtstag, als ihn Pressefotos mit wallender weißer Mähne zeigen. Unabänderlich dagegen das Vermächtnis der ersten drei Indochine-Studioalben: Selten klang Synthiepop so voller Lebensfreude.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
3 Kommentare mit 2 Antworten
Musik aus Frankreich: HipHop, French House und schlagereske Solokünstler. Gute Bands gab’s/gibt’s nur ganz wenige. Indochine sind eine davon.
L'Aventurier und 3 sind quasi perfekte Popalben!
Mit „Nuits intimes“ gibt es auch ein sehr schönes Akustikalbum.
Grossartige Band, auch wenn ich sie nur vom 21-century-sound her kenne (aus den iTunes-Playlists, die sie mir immer und immer wieder vor die Füsse kotzen, scheinbar wissen die algorhythmen was gut ist...). Schätze mal, hier ist demnächst der Trip back to the 80s angesagt. Danke für den Wegweiser.
fun fact: der aktuelle drummer ist ludwig dahlberg, der vorher für die (international) noise conspiracy getrommelt hat.
wann kommt eigentlich der meilenstein für survival sickness?