laut.de-Kritik
Hymnische Refrains und tiefe Betroffenheit.
Review von Olaf SchmidtNach der letzten, etwas wurstigen Langspielplatte der Manic Street Preachers waren die Erwartungen an ein neues Soloalbum ihres Sängers nicht besonders hoch. Aber James Dean Bradfield knüpft genau dort an, wo seine Stammband mit der famosen Veröffentlichung "Futurology" anno 2014 aufgehört hat. Ein klar umrissenes Thema scheint zuweilen Wunder zu wirken: "Even In Exile" basiert lose auf der Geschichte des chilenischen Poeten, Sängers und Aktivisten Victor Jara.
Während Bradfield die Musik bis auf eine Ausnahme schrieb, steuerte der Dichter Patrick Jones die Texte bei. Dass es sich hier nicht um leichte Kost handelt, liegt auf der Hand. James Dean Bradfield: "Einer der Gründe, warum Victors Geschichte so tief geht: Wie bei so vielen anderen politisch aktiven Menschen aus dieser Zeit führt sie zum Tod. Die Vorstellung, dass die Freiheit des politischen Denkens jetzt mit dem Tod enden könnte, ist immer noch zu schockierend, um darüber nachzudenken".
In den elf Stücken tut er es trotzdem. Bradfield und die Manic Street Preachers sind ebenfalls für sozialkritische, oft politische Texte bekannt. Der erste Song "Recuerda" (deutsch für "sich an etwas erinnern") geht direkt in die Vollen: "Recuerda / When they come to your door / With their laws and their guns / When they take away our daughters / And lead away our sons" macht betroffen, wenn man weiß, dass Jara von Pinochets Militärjunta brutal gefoltert und schließlich mit 44 Kugeln erschossen wurde.
Musikalisch gibt der Waliser die Richtung vor, die in knapp 50 Minuten beschritten wird: melodische Rockmusik mit vielen Einflüssen und Abwechslung, oft melancholisch, nie langweilig. "Futurology" steht Pate und räumt elektronischen Elementen einen größeren Stellenwert ein als auf der letzten Manics-Platte.
Hymnische Refrains beherrscht Bradfield spätestens seit "Everything Must Go". "The Boy From The Plantation" gesellt sich zu jenen Liedern, die man später unbewusst vor sich hinpfeift. Der stilistische Bruch folgt auf dem Fuße: Ein langes Intro mit träumerischen Keyboards, sphärischen Sounds und langsamen Beats gönnt sich "There'll Come A War", ein wunderbar ruhig dahinfließendes, nachdenkliches Stück. Unter den vielen Highlights auf "Even In Exile" sticht es noch mal besonders heraus.
Man weiß gar nicht, wohin mit den lobenden Worten, wenn direkt der nächste Knaller folgt. "Seeking The Room With The Three Windows", ein rein instrumentaler Track, würde auf jedem Album von Bradfields Stammband eine gute Figur machen und überrascht mit Tempiwechseln. Bradfield selbst nennt Rush als Einfluss und tatsächlich erinnert der Song ein wenig an "Red Barchetta" von den kanadischen Prog-Urvätern. Widerstand zwecklos.
"30000 Milk Bottles" mit slide-ähnlichen Gitarrenläufen besitzt einen deprimierenden Hintergrund: Unter Chiles Präsidenten Salvador Allende existierte ein Programm, das Kindern kostenlosen Zugang zu Milch gewährte. Auf 30000 schätzt man die Zahl der Menschen, die in der Zeit Pinochets verschwanden. James Dean Bradfield vermischt beide Themen zu einem weiteren Song. Die anschließend in Töne gegossene Melancholie in "Under The Mimosa Tree" braucht wahrlich nicht mal Worte, um zu beeindrucken: James, nimm doch bitte mal ein komplettes Instrumental-Album auf!
Die originelle Coverversion von "La Partida" stammt als einziges Stück nicht aus der Feder Bradfields und Jones', sondern von Victor Jara selbst. Da lässt man sich in Wales nicht lumpen und fährt schmissige Chöre, Trompeten, Kastagnetten und Westerngitarren auf - fertig ist der nächste Hit. "Everything in harmony / in the Santiago sunrise" entlässt das Publikum dann sanft zurück in den Alltag. Die träumerische Atmosphäre dieses letzten Songs rundet eine exzellente Platte stimmig ab. Schon lange hatte ich das Bedürfnis bei einem Album nicht mehr, aber hier drücke ich sofort wieder auf Play.
4 Kommentare mit einer Antwort
"The Last Song" hätte man auch noch erwähnen müssen. Stärkster Song der Platte imho und schönes Gitarrenspiel von James.
Und „Thirty Thousand Milk Bottles“. Eine unglaublich gute Platte!
Gefällt mir besser als die letzten beiden MSP-Alben.
Vielleicht sollte man sagen, dass dieser Dichter Patrick Jones, eigentlich der Bruder des Manic Street Preachers Bassisten Nicky ist. Ansonsten soll jeder das finden wie er mag, ich mags, ich mag auch die letzten MSP Alben, den Tiefpunkt hatten Sie meiner Meinung nach irgendwann um 2000.
Einfach nur "gz and thx" an JDB für ein wahrlich grandioses 5-Sterne-Rock-Album... und an Olaf Schmidt für die passende review!