laut.de-Kritik

Mancher Abschied verlangt nicht einmal ein leises Servus.

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"Pearl" war der Nachklapp einer Frühvollendeten. Nachdem Janis Joplin im Oktober 1970 zu Grabe getragen wurde, holte ihr Label Columbia das Album nur ein paar Monate später aus der Schatzkammer. Die Geschliffenheit der Produktion von Paul Rothchild und der scheppernde Blues aus Joplins Rachen machten die Sängerin posthum zur Lordsiegelbewahrerin der abklingenden 60's-Generation.

Beziehungskisten, Rauschgiftsucht und die ständig drohende Agonie hämmerten auf Joplin ein. Trotzdem konnte sie Tiefpunkte zu Wendepunkten umgestalten und ihre Befindlichkeiten erschütternd, aber findig kundtun. Der übermannende Ton Joplins kam als Überfallkommando, als Säbelrasseln, als Klagelaut. Seine Nachwirkung ist gleichzeitig erdenschwer und auf eine gewisse Weise prachtvoll.

Joplins Triumphmarsch begann noch mit ihrer ersten Hauskapelle Big Brother And The Holding Company und machte sie 1968 mit dem Album "Cheap Thrills" zum Verkaufskrösus am U.S. amerikanischen LP-Markt. Die Konstellation Joplin – Big Brother legte ihre stimmgewaltige Ausdrucksfähigkeit offen und hielt sie doch zurück. Die Unterstützung der Band wurde zur Verdopplung desselben Elements. "Eine Rocksängerin in einer Rockband", schrieb der Rolling Stone in der Besprechung zu "Pearl" im Februar 1971.

Zur Vollgültigkeit reifte Joplins Nachlass, als sie die Full Tilt Boogie Band ins Boot nahm. Die Musikerschar begleitete die Sängerin im Sommer 1970 als Backup Band im Rahmen des "Festival Express", einer Zug-Tournee durch Kanada, an der auch The Grateful Dead oder The Band teilnahmen. Dieses neue Puzzlestücks rückte nun ihr kratzbürstiges Markenzeichen in die Mitte, was sich vorher vor allem in Joplins orgiastischen Bühnendarbietungen anbahnte.

Der souveräne Gleichschritt von Gitarre und Gesang fädelt sich durch "Move Over", das noch Joplins Vergangenheitssound in das Eröffnungsstück von "Pearl" einspeist. Joplin tritt als weiblicher Wüterich auf, überdrüssig der Ausreden des Partners.

"A Woman Left Lonely" bringt das Vielerlei von "Pearl" auf den Punkt. Ein leichtes Schwingen im Vibrato pendelt hin zur unbändigen Hysterie. Das Piano steigt leger ins Entsetzen Joplins ein, ehe ein späteres Orgel-Solo die Wachablösung fordert und die Sängerin tief Luft holen lässt, um ihre Gegenwehr hinaus zu prusten: "Well, the fevers of the night / They burn an unloved woman / Yeah, those red-hot flames / Try to push old love aside."

Die Vagabundenerzählung "Me And Bobby McGee" übernahm Joplin von Kris Kristofferson, ihrem Geliebten im Frühling 1970, und frisierte seinen Country radikal um. Überhaupt zeigte sich Joplin lückenlos für die "Pearl"-Arrangements verantwortlich. In "Mercedes Benz" nahm sie dann den Kahlschlag vor, verzichtete aufs Instrumenten-Rückgrat und baute ihre Gesangspassagen sirenenhaft aus. Es blieb bei einem Take, der - neben einigen Versen "Happy Birthday" für John Lennons anstehenden Geburtstag – dazu ihr letzter war.

Bevor Joplin "Buried Alive In The Blues" im Sunset Sound Recorders Studio in Los Angeles einsingen konnte, fand man sie am 4. Oktober 1970 tot auf. Der Song war unausgegoren, aber er blieb auf "Pearl" als wortloses Grabmal. Mancher Abschied verlangt nicht einmal ein leises Servus. Aber: Irgendwie ist Janis Joplin doch da, so eingefasst in den Rahmen des Covers von Barry Feinstein – grienend auf einem viktorianischen Sofa mit Drink und Zigarette. Ganz nach ihrer Fasson.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Move Over
  2. 2. Cry Baby
  3. 3. A Woman Left Lonely
  4. 4. Half Moon
  5. 5. Buried Alive In The Blues
  6. 6. My Baby
  7. 7. Me And Bobby McGee
  8. 8. Mercedes Benz
  9. 9. Trust Me
  10. 10. Get It While You Can

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