laut.de-Kritik

Wie ein weißer Krokodilwärter zur Ska-Legende wurde.

Review von

Die Karriere des Mannes, den sie Judge Dread nannten, ist eine Geschichte voller Widersprüche. Angefangen mit der simplen Tatsache, dass er nach Bob Marley in den 70er Jahren die meisten Reggae-Hits in den britischen Charts platzierte, der großen Masse aber weder damals noch heute ein Begriff ist. Selbst Musikinteressierte kapitulieren in der Regel bei der Nennung seines Namens und bringen allenfalls eine Reaktion hervor: "Judge Dread? Achso ja, das ist doch diese eine Comicfigur."

Womöglich erreichte man in den 70er Jahren die große Masse auch nur übers Radio, wo Bob Marley eben durchaus vorkam, im Gegensatz zu Judge Dread. Denn statt sozialkritische oder spirituelle Lieder auf positiven Vibes brachte der Brite mit spitzer Feder sexuell anzügliche und schlüpfrige Verse zu Papier, die die Sittenwächter der altehrwürdigen BBC sofort hellhörig machten. Elf Judge-Dread-Songs landen im Laufe des Jahrzehnts auf dem Index, festgehalten im Guinness Buch der Rekorde. Er ist außerdem der erste Weiße, der auf Jamaica chartet und der erste Weiße nach Buddy Holly, der im Apollo in Harlem auftritt. Das liegt natürlich nicht (nur) an den Texten: Seine riddims knistern, der Vibe ist dirty - und schwarz. Angeblich reagiert das Publikum in Übersee entsetzt, als zu diesen Tunes ein Bleichgesicht die Bühne betritt, der entgegen seines Namens nicht mal über eine gefilzte Haarpracht verfügt, sondern vielmehr zur Glatze neigt.

An eine Karriere im Musikgeschäft war zunächst nicht zu denken - zumindest nicht im herkömmlichen Sinn. Alex Hughes, so sein bürgerlicher Name, war schon in jungen Jahren von sehr rundlicher Gestalt, dessen Physis ihm eine berufliche Zukunft in der Sicherheitsbranche eröffnete. Nach einer kurzen Phase als Wrestler und einer Anstellung als Krokodilwärter wird der Protz auis Snodland/Kent Türsteher und beschützt zeitweise sogar die Rolling Stones.

Mittlerweile in Brixton wohnhaft, saugt er den neuen Sound der schwarzen Einwanderer auf und kauft Singles von Prince Buster, Derrick Morgan und Desmond Dekker. Als Schuldeneintreiber für das auf jamaikanische Artists spezialisierte Label Trojan Records lernt er seine Idole plötzlich kennen und empfiehlt sich ihnen gleich noch als Bodyguard. Dekker ("Israelites") bucht er 1969 als Konzertveranstalter in einen Club seiner Heimatstadt Snodland.

Zum "King of Rudeness" macht ihn der Erfolg des absoluten Klassikers "Big Six", angelehnt an den ähnlich unzweideutigen Prince-Buster-Song "Big Five" - selbst sein Künstlername ist einem Song des Idols aus Kingston entlehnt. Hughes schnappt sich den Rhythmus des Verne & Sons-Songs "Little Boy Blue" aus dem Vorjahr und legt einige frivole wie unsinnige Zeilen in der Art von Kinderreimen darüber - ganz im Stile der auf Jamaika in Mode gekommenen "rude songs". Zeilen wie "Black pussy, white pussy, pink pussy, blue / the name of the game is Little Boy Blue" werden von einem vorwiegend schulpflichtigen Publikum abgefeiert, seine hohe, leiernde Stimme sorgt für das nötige Alleinstellungsmerkmal, das im Umfeld der britischen Einwandererkinder sofort einschlägt. Über Nacht ist Judge Dread auf der Insel der Star des Subgenres Skinhead Reggae.

Die Art seines Vortrags über den geschmeidig ausgewählten Riddims ("Dr. Kitch", "Oh! She Is A Big Girl Now") prägt "Dreadmania - It's All In The Mind", sein Debütalbum, das ihm Trojan nach dem ersten Überraschungserfolg zugesteht. Galt sein derber Humor in den frühen 70ern als Antithese zu politischer Korrektheit, wirkt er heute ähnlich aus der Zeit gefallen wie ein Benny Hill, der mit herunterhängender Zunge Mädchen nachstellt. Mangelnde Kinderstube? Obszöne Texte? Judge Dread befand mit unschuldiger Miene: "Rudeness it's all in the mind." Als selbst Chuck Berry mit einer ganz ähnlichen Formel seine einzige (!) Platz-eins-Platzierung in den Billboard Charts gelingt, fühlt sich Judge Dread nicht nur bestätigt, er übernimmt "Ding-A-Ling" gleich ins eigene Repertoire. Ebenso wie später "Je t'aime" von Jane Birkin und Serge Gainsbourg.

In den Folgejahren veröffentlicht er weitere Alben, bis seine beachtlichen 95 Wochen in den UK-Charts mit dem Aufkommen der Punk-Ära enden, deren Vertreter seine Idee der "explicit language" endgültig etablieren. Hierzu zählt auch Pubrock-Legende Ian Dury ("Sex & Drugs & Rock'n'Roll"). Hughes selbst sah sein Werk vor allem in der Two-Tone-Band Bad Manners und deren "fun records" gespiegelt: "Wenn du Menschen zum Lachen bringst, machst du sie glücklich. Dann hast du es geschafft", verriet er seinen Antrieb.

In den 80er Jahren verschwindet er von der Bildfläche mit Ausnahme einer zum Glück unbekannt gebliebenen Coverversion von "Relax" (Frankie Goes To Hollywood). In den 90ern beschert ihm eine nachgewachsene Ska-Gemeinde späten Ruhm. Der Vortrag des Storytellers ist seitdem so unkopierbar wie beliebt geblieben, die Tribute-Band Judge Dread Memorial etwa lässt seit Jahren kaum ein Ska-Festival aus.

Dies ist leider notwendig, da der echte Judge im März 1998 unerwartet abtritt. Am Ende eines Auftritts in Canterbury erleidet der 52-Jährige beim Verlassen der Bühne einen Herzinfarkt. Seine letzten Worte waren: "Let's hear it for the band." Die Bestürzung ist groß, von Laurel Aitken bis Dr. Ring-Ding kondolieren zahlreiche Weggefährten.

Konzertveranstalter Ossi Münnig, der u.a. auch den Ska-Mailorderversand Moskito in Münster betreibt, erinnert sich: "Die Tourneen mit ihm zählen zu den schönsten Wochen meines Lebens, die ich um nichts in der Welt missen möchte. Sein Tod kam vollkommen unerwartet. Wenn man aber bedenkt, wie viele legendäre Musiker vergessen werden und in Armut sterben, kann man seinen Tod auf der Bühne als würdevollen Abgang bezeichnen." Während die Ska-Welt trauert, benennt Judge Dreads Heimatgemeinde in Snodland mit dem "Alex Hughes Close" eine Straße nach ihm.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. All In The Mind
  2. 2. Big Six
  3. 3. Deception
  4. 4. Dr. Kitch
  5. 5. Oh! She Is A Big Girl Now
  6. 6. Mary Ann
  7. 7. Big Seven
  8. 8. Ding-A-Ling
  9. 9. Donkey Dick
  10. 10. The Biggest Bean You've Ever Seen
  11. 11. The Blue Cross Code
  12. 12. Dread's Almanack

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2 Kommentare mit einer Antwort

  • Vor 5 Monaten

    Immerhin trägt er keine Dreads das ist doch auch was

  • Vor 5 Monaten

    Solide und unterhaltsam, aber ein Meilenstein!? Von Big Six existieren 2 Versionen die Albumversion von 1973 und eine von 1980, die es in die deutschen Charts geschafft hat. Für mich klingt die 2. Version wie ein anderer Sänger und im Netz kann ich nichts konkretes finden. Weiß hier jemand mehr? Die original Version habe ich übrigens heute das erste mal gehört und finde sie im Vergleich recht schlecht.

    • Vor 5 Monaten

      Wie immer Ansichtssache, aus der (britischen) Ska-Geschichte ist JD und vor allem diese Platte nicht wegzudenken. Die zweite "Big 6"-Version erschien 1980, um sein Comeback im 2-Tone-Zeitalter einzuläuten. Hat ja leider nur so mittel geklappt. Der Beat ist mehr on point produziert, der "Gesang" klarer, für mich die bessere Version. Aber er ist hier eigentlich auch sofort erkennbar ... Damals durfte er sogar in der deutschen TV-Show "Musikladen" auftreten.