laut.de-Kritik
Trost und Zuspruch in schwierigen Zeiten.
Review von Giuliano BenassiDie Gestaltung der Albumcover ist seit 60 Jahren mehr oder weniger gleich geblieben: Der Hintergrund mag sich ändern, der Fokus liegt aber fast immer auf Judy Collins selbst und dem körperlichen Merkmal, das ihr Legendenstatus einbrachte, ihre blauen Augen. Mit "Suite: Judy Blue Eyes", das Stephen Stills über ihre stürmische Beziehung schrieb, begann 1969 die Karriere von Crosby, Stills & Nash.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Collins' Karriere bereits ihren ersten Höhepunkt erreicht. "Wildflowers", ihr bekanntestes Album, war 1967 mit Stücken von Joni Mitchell, Leonard Cohen (beide zu diesem Zeitpunkt noch so gut wie unbekannt), weiteren Coverversionen, aber auch ersten eigenen Songs erschienen. Eine Mischung, die sie immer beibehalten hat, zumindest bis zum vorliegenden Album Nummer 29: Auf "Spellbound" spielte Collins zum ersten Mal ausschließlich Stücke aus eigener Feder ein.
Klar, Corona trug dazu bei, dass Collins ihr Leben Revue passieren ließ. Dennoch ist es ein außergewöhnlicher und mutiger Schritt, mit 82 sein Herz zu öffnen und dies im großen Rahmen. Die erste Überraschung: Während ihre Freundin Joan Baez 2018 auf ihrem abschließendem Studioalbum große Mühe hatte, die höheren Töne zu treffen ("Whistle Down The Wind" ist trotzdem eine großartige Platte), klingt Collins viel jünger, als sie in Wirklichkeit ist. Das liegt sicherlich auch daran, dass viel mit Hall gearbeitet wird, eine männliche Stimme Unterstützung liefert und die Arrangements sehr weich gezeichnet sind. Es bereitet Collins aber spürbar Freude, zu singen. Das Leben meinte es nicht immer gut mit ihr, doch die Musik bot stets die Möglichkeit, das Leid zu vergessen.
In ihrer Wohnung in Manhattan eingeschlossen, nahm sich Collins vor, jeden Tag ein Gedicht zu schreiben. Am Klavier arbeitete sie an Arrangements, die sie anschließend mit dem Singer/Songwriter Ari Hest verfeinerte. Schließlich begab sie sich in New York ins Studio, um die Stücke mit altbekannten Musikern und Produzent Alan Silverman ohne großen Schnickschnack aufzunehmen. Die klassische Herangehensweise eines Profis also, der in der Lage ist, schnell auf den Punkt zu kommen.
Die Erinnerungen, die Collins dabei verarbeitet, sind eher von der schönen Sorte: Die Jugendjahre in Colorado, die aufstrebende Singer/Songwriterszene im New Yorker Greenwich Village, der sie in der ersten Hälfte der 1960er Jahre angehörte, verflossene Liebschaften. Die Realität zerreißt gelegentlich die Träume - etwa ein Unfall in "Hell On Wheels" - doch findet Niedergeschlagenheit keine Spur.
Collins besitzt dazu einen selbstkritischen Sinn für Humor. "Es waren die Jahre von Sex, Drugs (wobei es in meinem Fall eher wenige Drogen waren, ich machte mir Sorgen, dass sie mich zu sehr vom Trinken abhalten würden!) und Rock'n'Roll", schreibt sie in den Liner Notes zu "So Alive". Die Rückschläge in ihrem Leben, darunter Alkoholismus, Depression, Essstörungen und der Selbstmord ihres Sohns in den 1990er Jahren, verarbeitete sie in Form von Büchern, Vorträgen und Unterstützung wohltätiger Organisationen. Und vor allem durch ein beeindruckendes Arbeitspensum: Während die meisten ihrer Zeitgenossen längst die Gitarre an den Nagel gehängt haben oder auch gestorben sind, bleibt Collins aktiv wie eh und je. Für November 2022 sind sogar zwei Konzerte in Deutschland angekündigt.
Auf "Spellbound" zeichnet Collins das Bild einer starken Frau, die auch in ihrem neunten Lebensjahrzehnt noch viel zu sagen hat. Wie gewohnt soll ihre Musik Trost und Zuspruch bieten: "Es war genau der richtige Moment, dieses Album zu machen", erklärt sie, "nach all dem, was in der Welt passiert ist, brauchen wir etwas Inspirierendes und Ermunterndes".
1 Kommentar
Eine wunderbare Kritik, aber das Album heißt "Wildflowers".