laut.de-Kritik

Huch! "Heavy Metal" in der Elektro-Kirche?

Review von

Nach langer Zeit des Darbens erstrahlt das mächtige Kreuz von Justice am Horizont. Auf schwarzem Grund erhebt es sich, übergossen mit Ölfarben. Die Hohepriester des Elektro-Rock'n'Roll laden ein und beglücken ihre Anhänger mit einem neuen Gottesdienst. Fünf Jahre nach der eher ruhigen und eingängigen Messe "Audio Video Disco" betören sie mit der neuen Kardinälin "Woman". Doch Obacht! Auch wenn das Cover ein verspieltes und angenehmes Oberhaupt suggeriert, entpuppt es sich als komplex und widerspenstig. Der starke Charakter schmeißt zu Boden und überfordert. Musikalische Apostel, nicht für jedermann.

Doch bis es soweit ist, zeigt sich "Woman" erst einmal von der Schokoladenseite. Der majestätische Opener "Safe And Sound" evoziert kollektives Kopfnicken und geschmeidige Dancemoves mit dem Chor des London Contemporary Orchestra, einem extrem sexy Funk-Bass, Streichern und Synthie-Gitarre. Der Chor bringt ebenfalls viel Vergnügen in "Pleasure" und streckt konziliant die Hand nach dem Vorgängeralbum aus. Elektronischer Gospel mit großer Portion Soul lockt die Geistlichen in die Kathedrale.

Danach bebt die Glaubensstätte – "Alakazam !" Spacige Sounds à la Captain Future, bratzige Synthies, druckvoller Bass und geschickt gesetzte Pausen treiben die Schweißperlen aus den Poren. 312 Sekunden Ekstase sind garantiert. Xavier de Rosnay erklärt die Entstehungsgeschichte hinter dem Partytrack bei Clique: "Du hast zu viel Alkohol getrunken, aber am Ende fühlst du dich besser. Du siehst ein Mädchen und denkst dir, vielleicht klappt es dieses Mal. Mit deinem letzten Versuch verkackst du jedoch und gehst allein nach Hause. Das war die Idee." Ein Szenario, das jeder von uns schon erlebt hat.

Liebe beherrscht auch das legere "Fire". Die funky Melange aus Gitarre und Orgelklängen breitet einen Teppich für das sich durchziehende Mantra aus: "Love has made me reason / Love has made me seasoned / It's a game of giving, nothing more." Der liebevolle Chorus und ein an Daft Punk erinnerndes E-Gitarrensolo runden das Bild genüsslich ab.

"Stop", hallt es durch die Gänge. Die Kardinälin lenkt nun den Gottesdienst in eine andere Richtung und liest aus nicht so auditiv-erfreulichen Psalmen vor. Eine an den Nerven zerrende, glockenreine Melodie peitscht sich ohne Erbarmen durch den 80er-Elektropop, der Reminiszenzen an Kavinskys "Nightcall" heraufbeschwört. Der Chor im Refrain plus coole Synthies wirken wohltuend.

Nun schreitet "Woman" mit "Chorus" zur minutiös vorbereiteten Predigt. Sie erzählt von einer dystopischen Cyberpunk-Zukunft, dargestellt mit Alarmschlägen, tonnenschwerem Beat und 8-Bit-Sounds. Nach zwei Minuten durchbricht engelhafter Gesang den pechschwarzen Moloch, während sich eine fiese E-Gitarre in Ekstase schraubt. Dieser Sturm bringt nach weiteren zwei Minuten ein Klavier mit verzerrten Einsprengseln kurz zur Ruhe. Der Wind pfeift bedrohlich durch die Gassen und aus dem Hintergrund entsteigt wütender Steampunk-Rauch. Kurz vor Schluss bedecken die Engel durch die Öffnung des Elysiums die dreckige Landschaft mit Sonnenstrahlen. Eine musikalische Tour de Force, ein intensiver Reigentanz.

Der Ministrant "Randy" ergreift hernach die Führung und nimmt den schmutzigen Vibe mit. Die cheesy Hook und die Vocoder-Streicher lassen die überforderte Menge wieder zur Besinnung kommen.

Huch! "Heavy Metal" in der Elektro-Kirche? Eine verdächtig an Bachs "Prelude und Fuge Nr. 2 in C Minor" erinnernde Melodie, die schon in Bloody Beetroots "Have Mercy On Us" Verwendung fand? Mit widerspenstigen Rhythmusbrüchen, Filter-House und jaulenden 80er-Synthies entsteht eine bedrohlich-sakrale Stimmung. Dies verstärkt sich bei der Hostien-Vergabe namens "Love S.O.S.", wenn alles übertünchende Sirenen durch den kompletten Song brettern und der eigentlich balladesken Pop-Struktur eine verschrobene Note verleihen.

Die Messe ist damit gelesen, es fehlt lediglich der Segensspruch. "Close Call" übernimmt diese Aufgabe mit sanften Beats, atmosphärischen Synthies, Violinen und elogenhaftem Chor. Man glaubt, beim Hinausgehen förmlich auf heiliges Land oder in den Himmel zu treten. Der versöhnliche Schlusspunkt umarmt die Glaubensbrüder mit einer Chiptune-Melodie von schlichter Finesse, die Erinnerungen an selige Gameboy-Zeiten weckt oder, in jüngerer Vergangenheit, an Videospiele wie "Fez" oder "Hyper Light Drifter".

Justice liefern mit "Woman" ein ungemein abwechslungsreiches Album ab: eingängig, verdreht, erdrückend, ambitioniert und mutig. Sie hätten genauso gut "Cross" zitieren können, und die Fans lägen ihnen zu Füßen. Mais non! Xavier de Rosnay und Gaspard Augé implementieren insbesondere in der zweiten Albumhälfte völlig neue Klänge ins Justice-Universum und zeigen gekonnt, wie anspruchsvolle Kunst auf elektronischem Boden funktioniert. Hoffentlich erhören sie meine Gebete und lassen sich nicht wieder unsägliche fünf Jahre Zeit bis zur nächsten Liturgie.

Trackliste

  1. 1. Safe And Sound
  2. 2. Pleasure
  3. 3. Alakazam !
  4. 4. Fire
  5. 5. Stop
  6. 6. Chorus
  7. 7. Randy
  8. 8. Heavy Metal
  9. 9. Love S.O.S.
  10. 10. Close Call

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5 Kommentare

  • Vor 8 Jahren

    Der 70's-Discoeinschlag in "Safe And Sound" oder "Love SOS" ist schon nicht schlecht, aber dann hauen die mit "Heavy Metal" so ein Goblin-artiges Biest raus, dass es eine Freude ist. Justice entwickeln sich stets kontinuierlich weiter und das finde ich toll. Das läuft sicherlich die nächsten Wochen auf Dauerrotation.

  • Vor 8 Jahren

    Justice hatte ich bereits völlig vergessen.
    Das erste Werk war klasse, nummer zwei völlig unspannend ich hoffe sie konnten hier das Ruder rumreißen. Ich hätte Bock auf ne gute Justice Platte.

  • Vor 8 Jahren

    Wird mal probegehört, wenn es sich ins internetz gefunden hat.

  • Vor 7 Jahren

    Für mich Persönlich insgesamt zu Soft. Alakazam und Chorus hauen aber gut rein. Hey Metal klingt teils achtfach Herzlich, aber es fehlt ein bisschen etwas. der erst der Songs ist OK, plätschert aber manchmal nur so dahin. Ich hoffe immer noch darauf das eine richtige Power Scheibe kommt, so in 20 jähren oder so ;)

  • Vor 7 Jahren

    Einfach der Wahnsinn und mit wie viel Hingabe das Album komponiert wurde und trotzdem locker klingt. Nicht umsonst für mich die neuen Könige des French-Touch!