laut.de-Kritik
Back in black: Requiem für Bowie, Prince und Cohen.
Review von Ulf KubankeDas Verfassen eines Requiems reizte Tilo Wolff schon immer - nicht nur der Bandname Lacrimosa zeugt von dieser Idee. Gleichwohl plante er dieses Vorhaben zu einem deutlich späteren Karrierezeitpunkt. Dieses Jahr sollte eigentlich auch keine Platte erscheinen. Doch es kam ganz und gar anders.
Keine zwei Jahre nach dem bislang mit Abstand souveränsten Album "Hoffnung" ist Wolff 'back in black' mit "Testimonium". Zehn Lieder begehen das Sterbeamt für David Bowie, Prince oder Leonard Cohen.
Nicht nur in seiner Wahrnehmung begann Ende 2015 eine Ära des Dahinraffens. Aus diesem Gefühlsstau resultiert "Testimonium". Wolff: "Im Jahr 2016 hat die Welt Abschied nehmen müssen von zu vielen großen Künstlern. Mit ihrer Kunst bin ich aufgewachsen, ihre Bodenständigkeit, ihr Größenwahn, ihre Einzigartigkeit, ihr gesamtes Werk hat meine Kindheit und Jugend geprägt und war mir oftmals Vorbild und Leitbild. Die Kunstverliebtheit und Demut eines Götz George, die visionäre Wandlungsfähigkeit eines David Bowie, die Vielseitigkeit in ihrer unverwechselbaren Einzigartigkeit eines Prince, die Tiefe und Melancholie eines Leonard Cohen, sie alle haben Anteil an dem, was ich sein darf und was ich mit Lacrimosa seit 27 Jahren zum Ausdruck bringe. Dieses Album ist ihnen zum Dank gewidmet".
Der Umfang dieser Widmung ist - so makaber es klingt - nach oben offen wie eine Richterskala. Egal ob Carrie Fisher oder Glenn Frey: Lacrimosa umarmen alle mit ihrer Messe für die Verstorbenen. Ein solch überaus ambitioniertes Vorhaben kann indes nur gelingen, wenn sich die musikalische Umsetzung als entsprechend hochwertig herausstellt. Diese Gratwanderung schafft Wolff. Kompositorisch und klanglich macht er genau dort weiter, wo die "Hoffnung" endet.
Konkret bedeutet dies ein ebenso deftiges wie fragiles Gemisch aus Klassik, Gothic-Rock und Metal. Letzteres ist zwar keine echte Überraschung. Recht neu schillert hingegen Wolffs Weiterentwicklung auf dem Klassik-Sektor. Seit 2015 gewinnen Kompositionen und Arrangements erheblich an Tiefe. Sein Notenteppich gerät weit engmaschiger geknüfpt als auf sämtlichen Vorgängern. Virtuos und filigran dargeboten macht dies "Testimonium" zum ungleichen Bruder des Vorgängeralbums. Es ist das Yin zu seinem Yang.
Freilich gilt: Lacrimosas stets inbrünstig vorgetragene Ausdrucksfülle mag für manchen zu viel des Guten sein. Ist das große Kunst oder großer Kitsch? Gar beides? Wer sich Wolffs Klangkosmos öffnet, kann gleichwohl pure Emphase zwischen Andacht und Leidenschaft erfahren. Die Partituren bieten u.a. Holz- und Blechbläser auf sowie nuancierte Streichersätze en masse. Die drei großen Bs - Bach, Beethoven, Bruckner - vernimmt man ebenso wie den Grundton opulenter Tragik analog zu Mozarts "Requiem". Oben drauf noch etwas Filmmusikästhetik des alten Hollywoods: Fertig ist die ganz große Gefühls-Oper.
Wolffs Leistung besteht vor allem in der überaus gelungenen Verbindung von Rock und Klassik: Was bei etlichen Crossover-Werken - etwa Metallicas grauenvollem "S&M" - statisch nebeneinander steht, tönt hier von Anfang bis Ende wie ein echter, organischer Klangkörper. Alt und neu verschmelzen. Sehr stark kommt die Passage in "Nach Dem Sturm", in der eine elegische E-Gitarre nahtlos in Geigenhimmel und Hörnern aufgeht. Gut ins Konzept passen auch die im Lacriversum erstmals deutlich betonten halbakustischen Gitarren ("Herz Und Verstand").
Als Kernstücke der Platte fungieren besonders Beginn und Finale. "Wenn Unsere Helden Sterben" eröffnet den dunklen Reigen als Litanei und Lamento mit doppeltem Boden: einerseits ein Klagelied zur emotionalen Verarbeitung des Verlusts, gleichzeitig verkörpert das Stück eine Hymne an die Unsterblichkeit der Kunst der Verstorbenen. Endlichkeit trifft Ewigkeit.
Den Schlusspunkt der Totenmesse setzt das Titelstück. Mäandernd schleppender Doom mündet in eine hypnotisch verheerte Landschaft aus Dark Metal, Gothic und nur angedeutet sinfonischen Elementen. Ruhet sanft, ihr großen Geister!
3 Kommentare mit einer Antwort
Wer zwei Augen im Kopf und die Ohren links und rechts hat kann der Bewertung nur zustimmen!
Ich bin gespannt...nach der meiner Meinung nach unnötigen Abstrafung der Eisbrecher Scheibe. Ich werds mir mal anhören...
Also an so was muss ich mich immer etwas gewöhnen, dann finde ich es eventuell gut. Das kostet halt Überwindung und ist ein eigener Kontext. Deshalb verstehe ich das heran zitieren von der "grauenvollem "S&M"" auch nicht. Das Konzept war ein ganz anderes und dafür ist das Ergebnis keinesfalls grauenvoll, im Gegenteil sogar richtig gelungen. Also ein Äpfel mit Birnen Vergleich aus meiner Sicht. Statthaft? Nö und raubt mir direkt ein wenig Neugier! Keine Sorge, trotz des Lapsus, ich gebe mir die Totenmesse trotzdem.
lapsus? nur in deiner wahrnehmung.
die konzeptionelle/strukturelle gemeinsamkeit: gitarrenorientierte rockmusik und orchestrale klassik paaren sich.
ergebnis: bei metallica fließt nichts ineinander. hier schon.
"s&m" ist doch der ultimative beweis dafür, wie es nicht funktioniert.