laut.de-Kritik
Mit Bratsche im Cockpit: Geschichte eines Flugzeugabsturzes.
Review von Philipp Kause"Good evening. This is your Captain. / We are about to attempt a crash landing. / Please extinguish all cigarettes." - Diese Worte stammen aus Laurie Andersons Debüt "Big Science" von 1982 und aus dem Song "From The Air". Schon damals beschäftigte das Fliegen sie, die Vorstellung vom Stürzen und Fallen, siehe auch "Walkin' And Fallin'" auf derselben LP. Ein daran angrenzendes Laurie-Lieblingsthema ist der utopische Traum vom Übermenschen, der ihr als eine Art Mischung aus Roboter und Gottheit erscheint - "O Superman" wurde damals ihr erster Hit. Auch schon seit geraumer Zeit, einem Vierteljahrhundert, treibt sie das Projekt "Amelia" über die US-Pilotin Amelia Earhart voran.
Amelia war die erste Frau, die den Atlantik überquerte, 1932. Fünf Jahre später kehrte sie von einem Flug nicht zurück. Ihre Maschine ließ sich nicht exakt orten. Dass sie verschollen war, provozierte eine umfassende Suchaktion aus der Luft - mit einem riesigen Geschwader an Erkundungs-Flugzeugen und Marine. Bis heute ist Earharts Verschwinden irgendwo im Pazifik im Sommer 1937 unaufgeklärt. Artpop-Pionierin Laurie entwarf rund um diese Suchaktion einen Song-Zyklus und führte ihn teils schon im Jahr 2000 live in New York auf. Aus insgesamt 22 Tracks, man könnte auch sagen, Kapiteln, setzt Anderson jetzt ihr "Amelia"-Projekt zusammen.
Obwohl sie sich immer für Elektronik offen zeigte, engagiert sie dieses Mal ein Philharmonie-Orchester. Sie selbst spielt nicht nur Keyboards, sondern auch Bratsche. Es ist ein spannendes Werk mit Stücken, die viel von ihrer Entstehung wiedergeben, weil sie auf der Basis von Piloten-Tagebüchern und Telegrammen entstanden und man dieses Fragmentarische gut heraus hören kann, als wäre man beim beharrlichen Legen eines schwierigen Puzzles live dabei.
Sofort fällt einem als Laurie-Fan wieder das enervierende Spoken Word aus "From The Air" ein, das ebenfalls lakonisch, makaber und aus Cockpit-Perspektive gesprochen ist: "Your Captain says: Put your head on your knees. / Your Captain says: Put your head on your hands. / Captain says: Put your hands on your head. / Put your hands on your hips. Heh heh." - Ohne Lauries schwarzen Humor und Fähigkeit zum Absurden wäre dieses monomanisch verfolgte "Amelia"-Projekt undenkbar.
Laurie nahm es nie ernst, dass der Mensch sich durch die Technik unfehlbar machen wollte und doch jede Menge Probleme einbrockte - Kernthema des 20. Jahrhunderts. In unseren heutigen Zeiten, da Terrordrohungen, marode Schienennetze, kaputte Klimaanlagen und vieles mehr Europas Move von der Luft zurück auf die Schiene nicht gerade beschleunigen, da scheint es wie eine gelungene Provokation, an die Experimentierphase des Fliegens zu erinnern. "This is your Captain - and we are going down. / We are all going down, together."
Nun, in der Umsetzung hat das Werk leider wenig von der Idee des Fliegens. Hm, okay, man könnte das Sägen der Bratsche mit viel Fantasie den Rotoren eines Triebwerks zuordnen. Aber so richtig sinnlich erfahrbar wird das Thema, obwohl es sich für ein Horizont erweiterndes Klangdesign anbietet, dann doch nie.
Viel mehr bekommt man den Eindruck, einer trockenen Lesung beizuwohnen, die ungefähr so viel Charme ausstrahlt, wie wenn einem jemand ein Telefonbuch oder einen Versandkatalog ins Ohr schnattert. Und von Schnattern kann auch keine Rede sein, denn Laurie trägt alles ruhig, gleichmäßig, ohne Höhen, Tiefen oder Dramaturgie vor, und zwar Orts- und Zeitangaben aus dem Piloten-Protokoll. Dazu säbeln unentwegt die Streicherbögen von Cello, Viola und Geigen.
Sicher, was Anderson anfasst, ist Kunst, und diese Sammlung von Notizen hat ja auch eine beruhigende Wirkung. Anspruch und Wirklichkeit klaffen bei diesem Projekt dennoch auseinander. Mein Anspruch wäre, die interessante Vorlage in eine provozierende Kakophonie rund um die Technik der Luftfahrt zu verwandeln oder die mutmaßlichen Gefühle Earharts auf ihren Flug-Expeditionen erlebbar zu machen, vielleicht Stolz, Unsicherheit, Ängste, Erwartungen, Visionen oder das Staunen darüber, wie groß der Planet ist, denn den hatte man zuvor in erster Linie auf dem Wasser- oder Landweg bemessen.
Den einzelnen Territorien wie Puerto Rico, Brasilien, Pazifischer Ozean oder "India And On Down To Australia", die namentlich sogar in den Songtiteln genannt sind, trotzt Laurie naturgemäß wenig Lokalkolorit ab. Denn Amelia erkundete ja nicht diese Landstriche oder Gewässer, sondern überquerte sie. Irgendwelche Lokale 'Weltmusik' wäre da sicher fehl am Platze. Dafür spürt man ganz gut die Monotonie des Alltags im Cockpit, weil alles so gleich tönt, egal wo es spielt.
"Road To Mandalay", die Single, scheint aus dem Einheitsgrau der Platte heraus und spielt mehr mit Melodie und andeutungsweise auch mit Lauries Gesangsstimme. Wie alle Tracks hier verdrahtet sich die Nummer untrennbar mit der vorherigen und der nachfolgenden: Die Stücke lassen sich nicht so recht einzeln hören, weil Fetzen von davor oder danach dran kleben und alles wie ein Continuous Mix durchläuft.
Der Anfang zieht sich in mehreren Etappen von plus/minus einer Minute, dann hüpft der Sound mit jedem Track-Cue-Punkt. Im Streaming nervt das schon lange vor Erreichen des 22. Tracks wahnsinnig. "To Circle The World" erklärt Amelias Vorhaben, von Kalifornien ausgehend den Planeten zu umrunden, in der Luft und als Frau. Landkontakt gibt es natürlich zum Auftanken. Wann oder wo Amelia schläft, bleibt im Verborgenen. So stilisiert Laurie ihre Amelia quasi zum entfleischlichten Übermenschen mit Superkräften. Nur "India And On Down To Australia" lässt ein paar Reiseeindrücke von Kalkutta durchscheinen, Anohni trägt sie mit zart wispernder Stimme vor.
Anohni ist die Gaststimme etlicher Songs bzw. Fragmente, eben überall, wo auch gesungen und nicht nur geredet wird, zum Beispiel in "Aloft", "I See Something Shining", dick opernartig aufgetragen in "Radio", und auch in "Crossing The Equator", wobei in letzterem das dominante Streichorchester die Stimme ziemlich gegen die Wand spielt. Mit den Streichern wird es manchmal zu viel, und auch von den Eindrücken, die irgendwie - buchstäblich - in der Luft hängen, kann man im Verlauf zu viel kriegen.
Spannender wirkt es, wenn ganz vereinzelt Maschinen dröhnen ("To Circle The World"), die Atmo-Sounds wie Hyänen-Geheul klingen ("Takeoff"), Klacken aus dem Cockpit, Technik-Tests wie der Propeller- und Navi-Check, Funksprüche usw. für Kopfkino sorgen. Manche Momente am Anfang lassen mit ihrem düsteren Vibe, mit dissonanter Stimmung, Kunstpausen, Musik, die ohne Worte Bewegung und Beobachtungen erzählt, an David Eugene Edwards in den besten Momenten von Wovenhand denken, auch wenn Instrumentierung, Textinhalte und Genres grundverschieden sind.
Gemäß Andersons Version der Pilotin Earharts erscheint diese als staunende Impressionistin, die auf die über- und durchquerte Natur mit einem Touch Naivität guckt, ihren Hunger zu Protokoll gibt und dass sie über Südamerika an der Hitze leide, "everywhere so hot". Musikalisch spielt sich dazu dauernd das Gleiche ab. Mit Verlaub, Laurie, das ist nichtssagend, und zumal es wie die Tonspur einer Dokumentation wirkt, auch nicht besonders musikalisch.
Das Thema Absturz und Angst davor kommt schon beim ersten Kontinent-Wechsel zum Vorschein und zieht sich als roter Faden durch. "We're dropping down / shredding the clouds", so verliert die Maschine schon in "Brazil" an Höhe. Echo-Effekte auf der Stimme kitzeln etwas Thrill heraus. Als wirklich großartiges Stück zwischen Moderne/Neuer Musik und Neo-Klassik/Glitch, serviert "The Letter" die Streichertöne interessant und spannend arrangiert. "The Letter" sinniert konkret über den Absturz in der "Arabian desert", und spielt Überleben und Ableben durch. Amelia beschreibt ihre Schuhe und Ausrüstung so, als hätte sie damals in den 1930ern schon gewusst, wie 'Q' seinen Agenten James Bond ausstaffieren wird.
"I possess a letter, that I myself can't ready", "Ich besitze einen Brief, den ich selber gar nicht lesen kann", unkt sie, und der Satz drückt wieder diesen typischen Laurie Anderson-Humor aus. Trotzdem verrinnt im letzten Drittel alles in die Beliebigkeit, bis auf "Road To Mandalay", das aber auch seltsam out of context hängt. Unterm Strich hat Laurie den Beweis angetreten, dass sie so ein Thema vertonen kann, doch nach dem Hörerlebnis, eher sogar schon während dessen keimt die Frage auf: So what?!
Eine interessante Information wäre gewesen, dass die Flugpionierin 28 verschiedene Jobs ausübte, um sich ihren Pilotenschein leisten zu können, den ihre Eltern keinesfalls finanzieren wollten, mit Blick auf ihr Geschlecht. Die feministische DNA der Platte diskreditiert sich mit unzeitgemäßen Formulierungen wie "a woman pilot" trotzdem schon von selbst, denke man an die Allergie von Rapperinnen auf den Ausdruck "female rapper". Hier misslingt es Laurie, die angestaubte Welt der verhängnisvollen Dreißiger irgendwie so in die Jetzt-Zeit zu holen, dass es kein völlig hermetisch aufgebautes Biopic wird. Sinnlicher, detaillierter und biographisch tiefschürfender geht parallel gerade der Roman "Die Himmelsrichtungen" von Jo Lendle das Thema an.
Als Hörspiel für unterwegs hat "Amelia" gewiss seinen Reiz, wenn man im Flugzeug hockt und 'verspulte' Kunst für den Anlass braucht. Als Musikalbum hingegen, lässt "Amelia" einen schulterzuckend zurück. Für die Zukunft hat Buddhistin Laurie ein Konzeptalbum über die biblische Arche Noah in petto.
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