laut.de-Kritik
Hypnotische Töne zu bewegenden Worten.
Review von Ulf Kubanke" Es ist schön, ganz allein vor 600.000 Menschen zu stehen" - so begrüßt Leonhard Cohen in der Früh um 4:00 Uhr sein Publikum. Es ist der 30. August 1970. Das berühmte Isle of Wight Festival ist seit Tagen komplett aus den Fugen geraten. Politische Frustration entlädt sich in Gewalt. Schlägereien, Bränden. Wut und Aggression machen die gesamte Veranstaltung zu einem lebensgefährlichen Pulverfass, dem nur ein letzter Funken des Zorns zur Explosion fehlt.
Die Musiker hatten allesamt einen schweren Stand. Keiner der Fans wollte nun in dieser Stimmung Donovan sehen; geschweige denn Free, Jethro Tull oder Kris Kristoffersen. Nicht einmal ein harter Rocker wie Jimi Hendrix war in der Lage, die tosenden Massen zu besänftigen.
Sehen und vor allem hören wollte die Meute nur einzigen Mann: den dunklen Poeten aus Übersee! Also zerren die Veranstalter den Schlaf-und Wein-trunkenen Kanadier aus seinem Wohnwagen. Ihm selbst ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, dass der folgende Auftritt Rockgeschichte schreiben wird.
Der Nachname Cohen geht auf eine alte israelische Priesterkaste zurück, die Kohanim. Nomen est Omen! Schon von der ersten Sekunde an frisst das Publikum dem jüdischen Zeremonienmeister geradezu aus der Hand. Was nun folgt, darf man zum ersten Mal komplett als audio-visuelles Gesamtkunstwerk auf DVD und CD bewundern.
Es ist mehr als faszinierend, zu sehen, wie die Menschen sich innerhalb dieses Auftritts von Löwen zu Lämmern wandeln. Dabei passiert scheinbar gar nicht viel, was unsere heutigen Gigashow-gestählten Augen beeindrucken könnte. Da steht bei den meisten Songs eben nur ein einzelner Mann mit nichts in der Hand als einer Akustikgitarre und seinem Charisma.
Es gibt keine raffinierten Kameraperspektiven, keine rasante Schnitte und keine farbenprächtige Lichtorgie, nur großartige Lieder und Gedichte! Sanft rügt Cohen die inzwischen lammfrommen Randalierer mit dem melodischen "Hey, That's No Way To Say Goodbye".
Gleichzeitig spielerisch und todernst zelebriert der damals 35-Jährige seine ureigene Mischung aus hypnotischen Tönen und bewegenden Worten. Auch einige seiner sarkastischen Gedichte gibt der an diesem Abend angemessen zerzauste Poet gern zum Besten.
"They locked up a man. Who wanted to rule the world. The fools! They locked up the wrong man ..."
Die Credibility hatte der Sänger aus Montreal stets auf seiner Seite. Seine Kuba-Reflexionen und seine unverhohlene Sympathie für politische und revolutionäre Idealisten kam ihm dabei zugute.
Doch auch für einen solchen über jeden Zweifel erhabenen Künstler grenzt es an Tollkühnheit, in solch aufgeladener Stimmung einen Track wie "The Partisan" zu bringen. Direkt spricht er die Meute an: "I've lost my wife and children, but I have many friends, and some of them are with me!".
Cohens Milde senkt sich wie ein Schleier über die Versammelten. Am Ende der Nacht sind alle befriedet und versöhnt. Und die längst überfällige Veröffentlichung und Überarbeitung des Materials ist wahrlich ein gefundenes Fressen für alle Cohen Fans und rockhistorisch Interessierte.
"Singst du immer noch kitschige Gedichte für alte Damen?" fragte Janis Joplin ihn einst schelmisch im Chelsea Hotel. Das vorliegende Konzert dürfte diese Frage sicherlich eindeutig beantwortet haben.
3 Kommentare
reinschreib, bevor´s keiner tut und Ulf traurig ist.
Ich mag den, mittlerweile, alten Herrn und der Konzerthintergrund lässt mich doch tatsächlich mit meiner Live DVD Allergie ringen.
Dafür schluck ich vielleicht vorher doch mal ein Antihistaminikum.
Na, ich will doch nicht, dass Ulf traurig ist! Die Review klingt so gut, dass man das Teil eigentlich haben muss. Hätte ich allerdings auch ohne die Review gedacht ... vor ein paar Tagen zufällig entdeckt, und es juckte mir in den Fingern ...
Die "politische Frustration" war, wenn ich mich recht erinnere, übrigens eine Konsum-Frustration mit politischem Deckmäntelchen: Es wurde die Forderung aufgestellt, die Musik gehöre allen, also müssten auch alle reingelassen werden, ohne zu zahlen ... gegen die geldgeile Medienindustrie stellen wir die freie Verteilung der Musik, sozusagen. Die Musiker, die von ihrer Musik leben wollten, waren verständlicherweise anderer Meinung, und die Veranstalter, die sie bezahlen sollten, entsprechend auch.
Was immer man davon halten mag: Cohen als Schamane, der den hungernden Seelen mit seiner Musik Frieden schenkt, gefällt mir.
Das Ding ist fantastisch!
Was hat das denn mit dem Anwalt zu tun? Er hat halt ja völlig Recht, aber die Musik ist immernoch von Cohen. Das ist so ein wunderbares Stück Musik. Dass das der Anwalt nicht liegen lässt erwarte ich schlicht von ihm. Und mittendrin noch eine Geschichtsstunde. Perfekt. Ich habe sie mir gestern gekauft und bin schwer beeindruckt.
5/5? Aber Hallo!