30. August 2022

"Wie könnte ein Gorilla klingen?"

Interview geführt von

Mit "Eraser" veröffentlicht Deutschlands erfolgreichste Instrumental-Rockband Long Distance Calling ihr neues Album. Darauf thematisieren die Münsteraner das Aussterben von Spezies — und des Menschen.

Mit jedem Lied auf "Eraser" widmen sich David Jordan (Gitarre), Florian Füntmann (Gitarre), Janosch Rathner (Schlagzeug) und Jan Hoffmann (Bass) einem spezifischen Lebewesen und thematisieren sein Aussterben. Wir sprachen mit Jan Hoffmann über den Arbeitsprozess der Band, die thematische Arbeit an diesem beklemmenden Thema und das Erfolgsrezept der langlebigen Band.

Was kommt bei euch zuerst — das Konzept oder die Musik?

Das ist immer unterschiedlich. Bei den ersten Platten haben wir einfach angefangen zu jammen, so lange, bis etwas entstanden war. Dann haben wir uns überlegt, wie man das unter einer Klammer zusammenfassen kann. Seit der letzten Platte "How Do We Want To Live?" stand das Konzept in der Tat am Anfang. Die Platte drehte sich ja um künstliche Intelligenz. Das heißt, es war relativ schnell klar, dass es viele elektronische Sounds geben wird und ein bisschen futuristisch klingt. Diesmal war es so, dass wir das Gegenteil machen wollten und dass eben keine elektronischen Elemente zu finden sind, sondern — und das ist dem Konzept geschuldet — dass sehr natürlich aufgenommen wurde. Von daher stand diesmal auf jeden Fall definitiv das Konzept zuerst. Wir haben eine Liste von bedrohten Tieren erstellt — auch in Absprache mit Greenpeace. Dann haben wir Schritt für Schritt angefangen, die
einzelnen Tiere zu vertonen.

Wie war denn der Schaffensprozess dieser Platte? Es wurde in
mehreren Studios aufgenommen, auch in mehreren Städten.

Eigentlich war das Setup genau wie bei der letzten Platte. Wir haben die Gitarren und Bässe selbst aufgenommen — bei unserem Gitarristen Dave in Münster, im gleichen Haus wie unser Proberaum. Da hat er sein Studio und der ist da sehr, sehr gut, was das angeht, als Engineer auch aufzunehmen. Und das Schlagzeug haben wir in großen Teilen im Tessmar-Studio in Hannover aufgenommen. Das ist der beste Raum, den man in Deutschland zum Schlagzeug aufnehmen finden kann. Ein unfassbar riesiges, krasses Studio, wo man die Decke und die Wände absenken und verschieben kann. Da werden normalerweise Bigband- und Orchestersachen aufgenommen, vom Klang her ist das der beste Raum den man in Deutschland haben kann. Beim Schreiben haben wir wir diesmal Tier für Tier [nacheinander] alles fertig gemacht. Früher haben wir oft parallel an Songs gearbeitet. Diesmal haben wir immer Song für Song nacheinander abgeschlossen. Wir haben uns gefragt: Wie sieht das Tier aus, wie ist sein Lebensraum, wie bewegt es sich? Wir haben versucht, das musikalisch umzusetzen, damit man beim Hören auch eine klare Assoziation hat. Im besten Falle weiß man, welches Tier das sein kann — dass sich das in der Atmosphäre auch ein bisschen wiederfindet.

Also viel Recherchearbeit, aber auch viel Diskurs innerhalb der Band über das Thema, nehme ich an?

Genau, es steckten aber auch sehr viel emotionale Aspekte drin. Es war eine Mischung aus allem. Es war sehr, sehr aufwändig, das hört man der Platte auch an — von der Planung, aber auch vom Sound her. Wir haben sehr viel Zeit aufgewendet für dieses Album. Wir sind so bekloppt und machen dann so ein halbes, Dreivierteljahr eigentlich nichts anderes. Aber man merkt, wenn das so konzentriert passiert: Man ist mit dem Kopf dabei und hat nicht noch 80 andere Baustellen.

„Es muss alles ganzheitlich sein“

Wie war der Kompositionsprozess?

Normalerweise fangen wir einfach an zu jammen. Es kommt auch mal vor, dass jemand bereits etwas mitbringt, einen Rhythmus, ein Riff, eine Idee. Aber in diesem Fall haben wir direkt von Anfang an versucht, die Musik wirklich auf die Tiere hin zu schreiben. Das heißt, wir haben uns überlegt, wie klingt oder wie könnte ein Gorilla klingen? Das ist ein komplexes Lebewesen, jetzt im Vergleich zum Nashorn, das möglicherweise ein bisschen stumpfer ist. Deshalb ist der Nashorn-Song auch ein bisschen stumpfer. Aber der Gorilla ist halt sehr komplex und vereint alles, was uns als Band ausmacht. Da ist alles drin aus unserer Geschichte, das ist wohl der abwechslungsreichste Song der Platte. Wir haben versucht, den Lebensraum zu vertonen, ein bisschen Dschungel-Feeling. Wie bewegt sich das Tier? Das ist halt bei jedem Song anders. Der Grönlandteil ist vom Sound her sehr sehr kühl, der ist einen Ganzton runtergestimmt. Dann ist da die Biene, der Song ist sehr natürlich. Das Faultier ist ein sehr langsamer Song, sehr getragen, mit Saxophon. Die Musik musste dazu passen und eine Geschichte erzählen. Beim Gorilla ist es im Video so, dass er am Anfang durch den Wald streift. Da geht es musikalisch auch noch relativ entspannt zur Sache. Dann kommt der Mensch und zerstört den Lebensraum. Daraufhin wird es sehr wütend und sehr hektisch. Das haben wir versucht, musikalisch zu untermalen. Es war wie ein Soundtrack zu einem Film, der es nicht gibt.

Ist in dem Moment, in dem ihr ins Studio geht, bereits alles durchkomponiert und Improvisation spielt eher davor eine Rolle?

90 % ist fertig. Also unser Schlagzeuger macht ganz gern noch mal spontane Sachen im Studio. Aber das ist ja auch cool, wenn ihm dann noch Sachen einfallen. Aber zu 90% stehen die Songs. Das kostet sonst auch viel zu viel Zeit und Geld.

Wie lange haben die Studioaufnahmen in diesem Fall insgesamt gedauert?

Wir sind sehr schnell. Das Schlagzeug dauerte vier Tage, die ganzen Gitarren zusammen keine zwei Wochen. Die reine Aufnahme, sag ich mal, drei Wochen und das Mischen hat dann noch mal fast was genauso lange gedauert ... weil unser Mischer Arne sehr perfektionistisch war. Bei der letzten Platte war das auch schon so: Er hat freiwillig nochmal von vorne angefangen, obwohl wir es schon abgesegnet hatten ... weil er meinte ja, ist cool, aber kann ich noch besser. Er versuchte auch immer ans Limit zu gehen. Anfang Januar haben wir angefangen und waren Mitte Februar fertig.

Es ist ja ein sehr düsteres Thema — es geht ja auch um die Auslöschung des Menschen. Wie emotional waren die Arbeiten?

Sehr emotional. Die meisten in der Band sind Väter und man beschäftigt sich dadurch automatisch damit, spricht mit seinen Kindern drüber. Das ist definitiv was anderes, als wenn du einfach nur eine Platte schreibst und danach überlegst, wie die Platte heißen könnte, aber es keinen roten Faden oder kein Überthema gibt. Was ja manchmal auch total okay ist, um sich einfach nur fallen lassen möchte. Aber bei dieser Platte kommt man nicht drumherum, emotional zu sein. Für das Video zu "Eraser" haben wir Material von Greenpeace bekommen, da wird einem schon anders. Was uns aber wichtig ist zu sagen, dass wir natürlich auch ein Teil des Problems sind. Also jetzt nicht mit erhobenem Zeigefinger etwas sagen, sondern es soll Aufmerksamkeit erzeugen. Eine gewisse Awareness schaffen. Wir tragen alle dazu etwas bei. Wir fahren zu Konzerten, wir produzieren selber CO2. Es geht einfach um das Bewusstsein.

Das Konzept zieht ihr ja auf vielen Ebenen durch — unter anderem mit dem recycelten Vinyl, bei dem jede LP anders aussieht. Eure Ankündigung zur ersten Single habt ihr am Earth Day gemacht.

Die Platten sehen in der Tat alle anders aus, das ist spannend. Das war eine frühe Idee unserer Plattenfirma — uns war gar nicht so bewusst, dass es das gibt. Die Platten bestehen alle aus altem, farbigen Vinyl – was dann wieder granuliert und eingeschmolzen wird. Daraus wird dann neues Vinyl. Das macht natürlich total Sinn, weil es zur Zeit ohnehin Rohstoffknappheit gibt, auch bei Vinyl. Uns war eben wichtig, dass das alles Sinn ergibt – deswegen auch der Kick-off am Earth Day. Das Artwork, die Videos, alles was dazugehört — das muss alles miteinander verquickt und ganzheitlich sein.

Wer sorgt in der Band dafür, dass es auch ästhetisch einen roten Faden gibt, das immer alles zusammenpasst? Gibt es da eine Person von euch, die da besonders ein Auge drauf wirft?

Wir sprechen am Anfang des Projekts darüber, in welche Richtung es gehen soll. Unser Schlagzeuger Janosch und ich machen das 'Tagesgeschäft' — und sprechen dann mit dem Layouter. Max hat ja schon das Layout für die letzte Platte gemacht, ein super krasser Typ, der fast alle Freiheiten hat. Wir sagen ihm ungefähr, was uns vorschwebt und was für Ideen wir für das Album haben. Dann fängt er an zu arbeiten und wir vertrauen ihm. Er hat für das Booklet zu jedem Tier eine Illustration gemacht, in der Box gibt es außerdem Kunstdrucke. Zum Beispiel eine Klaue vom Faultier, ein Zahn vom Hai, ein Flügel vom Albatross. Wir vertrauen den Leuten, mit denen wir arbeiten — aber natürlich sprechen wir am Anfang alle darüber, in welche Richtung das gehen soll.

"Wir hören privat gar keinen Post-Rock"

Das Coverbild ist auch besonders einprägsam, kannst du was drüber erzählen?

Man sieht eine Hand, die etwas hält, eine Art Kubus. Man sieht Knochen — die stehen für die Tiere, die aus der Hand fallen und aussterben, von Menschenhand. Dieser Kubus ist die "Deathbox" — eine Blackbox die von Wissenschaftlern in in Tasmanien gebaut wird, wo Klimadaten, Wetterdaten, Social Media Daten gesammelt werden, wo alles aufgezeichnet wird, was wir machen — und mit der im Zweifelsfall im Nachhinein nachvollzogen werden kann, wie wir es verkackt haben und wann. Als Mahnung. Dieser Kubus in der Hand ist in der Tat diese Blackbox beziehungsweise Deathbox, um es überspitzt zu sagen. Es soll aber auch heißen, wir haben es immer noch selber in der Hand als Mensch. Es hat so einen doppelten Boden.

Ihr habt in Deutschland eine Art Ausnahmestellung, seit als Instrumentalband auf Platz 7 der Albumcharts gekommen — das ist schon bemerkenswert.

Ja, das wird einem zwischendurch bewusst — wie auch durch die ausverkaufte Show in der Elbphilharmonie, wo man nie dachte, dass das mal klappen würde. Wir hatten auch das richtige Timing, Glück, das kommt alles dazu. Aber man darf auch nicht vergessen: Wir arbeiten seit 16 Jahren wirklich hart. Es gibt ein paar deutsche Bands wie The Ocean, die Brüder im Geiste sind und sich den Arsch aufreißen. Viele Bands trauen sich nicht wirklich, im Ausland zu touren, das haben wir von Anfang an gemacht, haben viele Supportshows gespielt. Wir haben versucht, der Post-Rock Ecke, in die wir immer geschoben wurden, fernzubleiben. Wir haben fast alle Touren aus diesem Genre abgesagt und haben lieber mit Dredge oder Opeth getourt. So haben wir immer wieder Leute eingesammelt. Wir haben in 16 Jahren acht Alben, zwei Eps und eine Liveplatte gemacht. Wir haben von Anfang an gesagt: Entweder machen wirs richtig oder wir lassen es sein. Ein bisschen nebenbei funktioniert für uns nicht, wir brauchen den Druck. Es ist Feuer drin, es fühlt sich an wie am ersten Tag. Es gibt keine Abnutzungserscheinungen, wir haben immer noch Spaß dran — und haben uns, dadurch dass es 'merkwürdige Musik' ist, ein Alleinstellungsmerkmal. Wir haben zwei Platten mit Gesang gemacht, aber das hat nicht so richtig gut funktioniert, wir haben gemerkt: Schuster bleib bei denen Leisten. Mit Gesang ist man halt eine Band von sehr, sehr vielen. Das ist es auch: Dass wir in keine Schublade passen. Das ist Fluch und Segen.

Habt ihr euch vom Post-Rock distanziert, weil ihr euch mit der Musik nicht identifizieren könnt oder weil ihr dem Stigma entkommen wolltet?

Sowohl als auch! Wir hören privat gar keinen Post-Rock. Noch nie. Es ist ja nur instrumental geworden, weil wir keinen Sänger gefunden haben und wir merkten: Es funktioniert trotzdem. Es war ein Unfall, wie die Band eigentlich auch. Es sollte ein Spaßprojekt werden, wir kamen ja aus dem Metal und wollten mal was anderes machen. Dabei blieb es dann. Die Post-Rock-Szene ist ja auch sehr klein. Wir haben auch ein sehr, sehr heterogenes Publikum.

Eine Band, die wie ihr schon wirklich lange so fokussiert kreativ arbeitet und auch so einen hohen Output hat wie ihr: Was ist das Geheimnis, dass es auf der Langstrecke funktioniert?

Wir sind alle wahnsinnig unterschiedlich, auch was den musikalischen Geschmack angeht. Das ist auf dem Papier total schwierig und in der Realität ist es trotzdem gut. Letztendlich wollen wir alle das Gleiche, wir kommen nur aus einer anderen Richtung. Man kennt sich natürlich über die Zeit viel besser, aber man weiß wirklich nie, was passiert, wenn man anfängt mit einer neuen Platte. Das ist bei anderen Bands vielleicht nicht so, die immer das Gleiche machen. Bei uns ist es immer spannend und niemand weiß, was passiert. Unser Schlagzeuger hat einen wahnsinnig breitgefächerten Musikgeschmack und beherrscht viele Genres. Er hat mal eine elektronische Phase, jetzt hatte er eine Phase, in der viel Metal gehört hat — das hört man dem Album auch an. Die Mischung ist immer anders, weil wir uns ja als Menschen weiterentwickeln. Dadurch, dass wir so unterschiedlich sind, wird es auch nie langweilig. Das ist auch manchmal anstrengend und man diskutiert auch viel. Aber ich glaube, es wäre schwieriger, wenn wir alle immer gleich wären und immer genau das Gleiche machen wollen.

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