laut.de-Kritik
Indie-Pop mit Bacharach-Appeal.
Review von Artur Schulz"Ach, was weiß denn ich." Dieser Schluss-Satz nach zwölf Songs bedeutet das charmanteste - und listigste - Understatement des deutschsprachigen Musik-Jahrs 2010. Mit "Flüchtige Bürger" geben Lydia Daher & Band nichts weniger als den Glauben an originellen Deutsch-Pop zurück.
Es ist nie einfach, "Auf Augenhöhe Mit Der Welt" zu stehen. Lydia versucht es trotzdem - mit einem vereinnehmenden, melodischen Indie-Popper, der aufrichtig kämpft mit den Entscheidungen für das Leben: "Wo unecht echt wird / wird Widerstand zur Pflicht / ich verlang' ja nicht mehr / als ein wahres Gesicht."
Sanft und sphärisch fixiert die Augsburgerin das Gefühl des "Glücklich"-Seins, ganz allein mit sich selbst, nur auf gelegentlicher Jagd nach einer sich hinter Häusergiebeln versteckenden Wolke. "In jedes Leben muss ein bisschen Regen falln'" erkennt sie, und das muss nichts grundsätzlich Schlechtes bedeuten. Im aufmüpfigen "Anders Albern" seziert das Messer der Lyrikern mit geübtem Schnitt alltägliche Lebens-Beobachtungen: "Manche können Geister seh'n / andere haben selber keine" stellt sich in seinem treffenden Sarkasmus gleichberechtigt neben "Manche wollen immer glänzen / obwohl sie keinen Schimmer haben".
Zu wenig Geld, zu viel Größenwahn - im süß daherflötenden "Hallo Hallo Hallo" amüsiert die Betrachtung bundesdeutschen Einkaufs-Verhaltens: "Wir sind die Schnäppchenjäger / Deutschlands Tüten- und Hoffnungsträger", die aber den Blick stets nach vorn richten: "Die Zukunft wiegt so schwer in der Hand / wir brauchen den Kram nicht / wir tun's für unser Land". Merkel und Westerwelle dürften begeistert sein, doch auch die Opposition bekommt, was ihr zusteht, denn "Alles, was Sozialisten haben / ist Humor".
Das minimalistisch gehaltene "Flüchtige Bürger" fungiert als doppeldeutige Umschreibung, was die Endstation Sehnsucht in deutschen Städten angeht. Bedeutet "flüchtig" doch einerseits etwas sich schemenhaft Auflösendes, Verschwindendes im Gegensatz zur bewussten Flucht aus dem Geht-nicht-mehr. "Wir sind nicht am Start / weil wir auf dem Weg sind" ist die logische Konsequenz für Lydia, die weiterhin misstrauisch das genormte Treiben betrachtet: "Ich kenne zwar die Regeln / aber nicht das Spiel".
Ganz zum Schluss hat Lydia das rote Kleid für weiße Nächte ausgewählt, ihr verführerischstes Parfüm aufgelegt, in der Küche gezaubert. Doch gleich die ersten zwei Zeilen machen klar, wie dieser Nachmittag verläuft: "Du hast gesagt, du kommst um zwei / jetzt ist schon gleich halb vier vorbei". Wie Lydia Daher textlich und musikalisch diese Situation dann doch in einen Sieg mit feucht umrandeten Augen für sich verwandelt - das ist umwerfend. Weil so wahr, denn schließlich: "Der Platz an der Sonne ist doch hier / der Platz an der Sonne ist doch hier bei mir".
Für echte Trompeten fehlen Lydia Daher und Band (noch & vielleicht glücklicherweise) das Geld, aber die sie ersetzenden Synthie-Einlagen bercircen auch ohne einen Brönner am Blech. Die Nummer bewegt sich in einem derart eleganten Sixties-Ambiente, dass sich auch ein Burt Bacharach darin vergucken würde. "Der Raum ist voll von mir / ich bin Herrin der Lage" macht sich Lydia Mut, auch wenn in den finsteren Nachmittags-Ecken die Erkenntnis lauert: "Wie vieles gibt es doch / was ich nicht nötig habe".
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