laut.de-Kritik
Musik, die Grenzen überwindet.
Review von Joachim GaugerEin unbestimmtes Rauschen, Stimmengewirr, eine Ansage wie von einem Radiosprecher, von irgendwo ein Kinderlachen. Dann setzt die akustische Gitarre ein. Zu wenigen, sparsamen Akkorden erzählt Manu Chao im Titelsong in nebeneinander gelegten Gesangsspuren vom "Clandestino", dem Flüchtling ohne Papiere.
Immer wieder weht es Stimmen und andere Geräusche wie von der Straße herein. Es bleibt unklar, wo wir uns befinden, jedenfalls handelt es sich nicht um einen geschützten Raum. Auch im zweiten Song von Manu Chaos 1998 erschienenem Soloalbum "Clandestino" geht es um das Verlorensein, um Flucht und Identitätsverlust: "Wenn sie mich jagen, bin ich nicht da / Wenn sie mich finden, bin ich jemand anderes", heißt es in "Desaparecido".
Manu Chao selbst war natürlich immer ein Privilegierter. Zwar flohen seine Eltern vor dem Franco-Regime in die Banlieues von Paris. Er selbst jedoch wuchs in einer mehrsprachigen Künstlerfamilie auf, bei der Intellektuelle, Schriftsteller und Musiker ein- und ausgingen. Die eigene Karriere als Musiker bekam er praktisch in die Wiege gelegt.
Bereits als Chef und Sänger von der erfolgreichen französischen Rockband Mano Negra engagiert Chao sich für soziale Projekte, etwa im Rahmen der 'Caravane' durch verschiedene französische Vorstädte. Doch erst mit "Clandestino" steigt Manu Chao zu der Stimme der Entwurzelten und Entrechteten dieser Welt auf - übrigens eine Rolle, die er selbst vehement ablehnte.
Ein Jahr nach dem Erscheinen von "Buena Vista Social Club" profitiert Manu Chao sicher auch noch einmal vom Weltmusik-Boom der späten 90er Jahre. Doch obwohl "Clandestino" lateinamerikanische Klänge, Reggae und mexikanische Mariachibläser mit Rockgitarre und Dub-Elementen zusammenbringt und sich in den Texten ein wahrlich babylonisches Sprachengewirr entfaltet, ist "Clandestino" kein echtes Worldmusic-Album.
Mit seiner sanft durchschimmernden humanistischen Botschaft verweist es zurück auf eine Zeit, in der Lieder noch eine Bedeutung hatten und man der Musik noch zutraute, die Welt ändern zu können. Mit seinen Gästen, den vielen Sprachen und fremden Stimmen unbekannter Herkunft, den Samples und (Selbst-)Zitaten dagegen weist es in die Zukunft einer postmodernen, globalisierten Popmusik.
Lieder wie "Mentira ..." und "Por El Suelo" kreisen mit fast denselben Worten um die lügenhafte Gestalt unserer Gegenwart, als deren deutlichsten Ausdruck Manu Chao am Ende von "Mentira ..." Radioansprachen von Politikern einspielt. An diesen Stellen lässt sich als politische Aussage vielleicht die Empfehlung eines gesunden Skeptizismus herauslesen, ansonsten vermeidet Chao jedes Moralisieren und jede Festlegung auf einen Standpunkt.
Wiederkehrende poetische Bilder wie "esperando la ultima ola ...", die Zeile, die dem Album auch als Untertitel dient, stellen so unterschiedliche Titel wie "Luna Y Sol" und "Por El Suelo" in einen losen Zusammenhang. Selbst "Bongo Bong", der Hit des Albums, der in Deutschland die Top Ten erreichte und den 2006 Robbie Williams coverte, ist ja ein Selbstzitat, beziehungsweise eine Neueinspielung des von Mano Negra aufgenommen "King Of Bongo".
Der 'King Of Bongo' ist im Dschungel ein König, in der großen Stadt dagegen ein Niemand. Mano Negra beklagen diesen cultural clash zu wütend treibenden Rockrythmen. "They say that I'm a clown / making too much dirty sound / they say there is no crown / for little monkey in this town." Manu Chao spitzt den Text sogar noch zu ("they say there is no PLACE / for little monkey in this town)", dafür versprüht die unterlegte Musik nun eine heitere Gelassenheit.
Heiter ist auch die Grundstimmung des gesamten Albums. Dazu trägt neben den im Verlauf immer wiederkehrenden Melodien zum Mitsingen das Kauderwelsch aus Englisch, Französisch, Spanisch, und Portugiesisch, Katalan und anderen Sprachen bei. Das erinnert an eigene Verständigungsversuche in fremden Ländern und lädt zu Perspektivwechseln und produktiven Missverständnissen ein.
"Welcome To Tijuana" beispielsweise dreht sich auch um die Menschenhändler ("coyotes"), die von der grenznahen Stadt aus Mexikaner illegal in die USA schmuggeln. Doch die Zeile "Welcome to Tijuana / Tequila, sexo y marihuana" versteht mancher Hörer womöglich zunächst als Lobpreisung eines exotischen Reiseziels.
Wie manch andere große Musik ist "Clandestino" Ausdruck einer überwundenen Lebenskrise. Als Mano Negra Anfang der 90er zerbrachen und Manu Chao untersagt wurde, den Bandnamen weiter zu verwenden, glaubte der Sänger, seine Karriere sei am Ende. Als sich auch noch seine langjährige Freundin von ihm trennte, begab er sich mehrere Jahre lang auf eine Reise durch West-Afrika und Südamerika. Von Depressionen geplagt und nach eigener Aussage stark suizidgefährdet, hangelte er sich durch die Bars von Rio oder Mexico City, mit Gitarre und Aufnahmegerät im Gepäck.
Zurück in Paris, produzierte er gemeinsam mit Renaud Letang verschiedene Versionen der dabei entstandenen Lieder. Die meisten Instrumente spielt er selbst, nur die Bläser steuern Angelo Mancini und sein Bruder Antoine bei.
Das später veröffentlichte, sehr reduzierte Klangbild entstand angeblich durch Zufall, als Letang versehentlich die Spuren mit Drums und Dance-Beats löschte. Manu Chao selbst soll zu der Zeit sehr von elektronischer Musik fasziniert gewesen sein. Er sieht sich auch nicht wirklich als Urheber des Albums: "Ich wusste nicht, dass ich ein Album mache. Es war pure Therapie."
Ohne seine Band war Manu Chao noch kein Clandestino ohne Papiere, aber doch ein plötzlich Namenloser, vom Verschwinden und Vergessen bedroht. Auf der Flucht findet er Trost in der Fähigkeit der Musik, Begegnungen zu ermöglichen, Grenzen zu überwinden und neue Horizonte zu öffnen. So lässt Manu Chao etwa die langjährige Lebenspartnerin Anouk Khelifa-Pascal, die ihn vor Jahren verlassen hatte, nun die Zeilen zu "Je Ne T'Aime Plus" einsingen.
Aus der Perspektive des kulturellen Austauschs stellt sich manches plötzlich anders dar. Der Raum der Begegnung und der gegenseitigen Befruchtung muss nicht geschützt sein. Sondern nach allen Seiten offen.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
9 Kommentare mit 9 Antworten
Schöne Rezi
Überschätzte Platte. Fand das damals auch toll, aber ist irgendwie schlecht gealtert und langweilig, aus heutiger Sicht. Wenn dann höre ich lieber wieder mal eine Mano Negra Platte.
Habe Clandestino und Bongo Bong letztens wieder gehört und bin eher erstaunt, wie gut das gealtert ist.
Kann ich nur zustimmen. Überraschend gut gealtert die Platte, die Themen sind auch noch ähnlich aktuell. Gute Songs.
Lustig. Ich bin "erst" 27 und habe die Platte vor ca 10 Jahren erst entdeckt und höre sie heute nochmit Freunden beim Baden usw.. Ich erinnere mich noch an meinen Urlaub in Cannes vor ca. 7 Jahren als ein Pärchen am Strand das Album nebenbei hörte. Schöne Atmosphäre. Dieses Jahr in Guatemala liefs in nem Hostel. Es gibt eigentlich wenige Alben die so zeitlos, genial, für die Ewigkeit und Grenzen überwindend sind wie dieses Meisterwerk.
Eine zeitloses, perfektes Album.
Schöne Rezension.
Tolle Platte, höre ich als einzige Manu Chao Platte immer noch sehr gerne. Ziemlich zeitlos, wie von ihm gewohnt politisch und gesellschaftskritisch und gut gespielt. Verdienter Meilenstein.
guter Meilenstein
Ich kann mich nur anschließen: gut geschriebene Rezension für eine musikalisch großartige Platte.
Wobei ich "King of Bongo" von Mano Negra besser finde, weil es treibender ist. Wobei man Manu Chaos Neuinterpretation im Gesamtzusammenhang mit der Platte sehen muss - und da passt seine Interpretation wunderbar.