laut.de-Kritik

Der Alte bleibt bissig.

Review von

Richtig straighten Gitarren-Classic Rock mit anspruchsvollem Storytelling und vielschichtigen Arrangements gibt's schon lange nur noch auf lokaler Ebene. Wo man im Genre vor allem die Wahl zwischen skandinavischen Hau-Drauf-Bands, Saga-Synth-Sound und Electric Blues hat, besinnt sich Westernhagen der '70er und wendet sich in deutscher Sprache wohl an alle Peter Frampton-Fans, umrahmt von einem Einzelstück Louisiana-Sound und zwei Howe Gelb-Anleihen. Passend antiquiert für sein Anliegen, den "Zeitgeist" zu hinterfragen.

"Ich kann mich nicht artikulieren", erzählt er in "Die Wahrheit", aber das ist nicht die Wahrheit, denn er artikuliert vortrefflich und bisweilen mehr als deutlich und überzogen dramatisch. Auch jetzt als recht Betagter bleibt ihm das Bissige, Kernige erhalten: Kein Maffay-Gebrodel, keine Herbi-Schnappatmung, Marius braucht keine Logopädin. Es fehle ihm an Eloquenz, meint er, aber das ist auch nicht "Die Wahrheit", denn die Lyrics sind so klar und tiefsinnig wie auch gut durchrhythmisiert. Bisweilen allerdings sprunghaft, skizzenartig und introvertiert, mit dem Vorteil: Da kann dann jeder beim Hören was Eigenes hinein interpretieren. Und MMW deckt auch auf, wie er das mit dem Artikulieren und der Redegewandtheit meint: eine WhatsApp schreiben, wenn man sich mündlich nichts zutraut.

WhatsApps werden seit Jahren beim Überqueren von Zebrastreifen, Befahren von Autobahnen und im Fitnessstudio am Laufband geschrieben, gelesen und deutlich seltener beantwortet. Das Thema ließe genügend Raum für Sarkasmus, doch Westernhagen lässt es mit dem Aufwerfen einzelner Gedanken und Bilder gut sein. Klar wird: Der Düsseldorfer Wahl-Hamburger baut sich auf "Das Eine Leben" keine Freundschaft zu Mark Zuckerberg auf, was immer die auch wert wäre. Eine App nach der anderen zerlegt der Vorzeige-Deutschrocker.

"Wenn du nichts kannst / dann tu einfach so", zieht Marius das Résumée aus dem Leben der anderen und ätzt in "Zeitgeist", dass diejenigen mit "Botox-Fresse" noch auf die anderen herab lachten, die sich nicht mit Fakes Vorteile verschaffen würden. Auch die Kardashians bekommen ihr Fett weg. Anzunehmen, dass der Track auf Instagram schießt. "Spieglein, Spieglein An Der Wand" analysiert eindringlicher unter Zuhilfenahme zerfletschender, bohrender Gitarrenriffs und intensiven Elektro-Orgel-Wieherns: "Aufmerksamkeit ist eine Droge / die Gier danach kann tödlich sein." Der stringenteste und beste Song der LP!

Musikalisch passt das alles, gleichwohl man den Eindruck nicht los wird, einen Zitate-Ritt mit dem 73-Jährigen zusammen zu hoppeln. Déjà-Vus gibt es viele, alle aber recht vage. Vertraut klingt der perkussive Gitarren-Duktus aus "Lover Lover Lover" (Leonard Cohen) in "Dunkle Fantasien" (ein sehr schöner Anspieltipp unter den ruhigeren Nummern). Dave Davies' Riff-Technik, Rory Gallagher-Flair und "The End" von den Doors bekommen schon im Opener dezente Referenzen gesetzt ("Ich Will Raus Hier"), während Marius "die gottverdammte Pandemie" beklagt, in typischen 70er-Rock-Schuppen-Sound mit Sixties-Wurlitzer getaucht. "Schnee Von Gestern" mimt gar Hardrock-Stomp.

"Es Geht Immer Nur So Weit Wie Es Geht" erprobt einen leicht dissonanten, dunklen, kernigen Wüstenrock-Twang nach Art von Green On Red. Zur kammermusikalischen Slow-Mo-Variante des Desert Rock, "Abschiedslied", könnte man auch "Unplugged" sagen. Fürs dritte Stück in diesem Stil, "Achterbahngedanken", wurde die Achterbahn zwar mit starken Kontrasten vertont: Spoken Word und Kontrabass kontrastieren mit exaltiertem Drama-Gesang und Geigengekreische. Etwas weniger Streichschicht und relaxterer Gesang hätten indes durchaus gereicht. Die Message: Das "iPhone-Reich wird zum Treffpunkt aller Narzissten erklärt.

Dem Titel gemäß stochern die Texte der elf Tracks hartnäckig im Philosophischen. "Das Leben ist das Leben / es ist nicht das Paradies / es ist das große Fressen / und eh du dich versieht, ist, was war / auch schon vergessen", singt Westernhagen, um im Schlussstück dagegen zu halten "Das Leben ist verloren" (in "Wenn Wir Wieder Über Den Berg Sind"). Makaber, nihilistisch oder verbittert? Muss jeder selbst wissen, wie die Zeilen ankommen. Mir sind sie zu frontal und unvollendet düster für einen letzten Album-Track und zu deprimierend für eine Frühlingsplatte, aber das ist einfach Geschmackssache.

Für die Aufnahmen begab man sich in den Ashbury Park nach New Jersey. Das Resultat umfasst relativ viel Americana-Anteil, inklusive Honkytonk-Piano - wohl dank Larry Campbell, Multiinstrumentalist mit Star-Status in Musicians-Kreisen. Aufgesetzt wirkt das nicht, eine solide Sache, aber auch nicht herausragend oder innovativ. Eher wie ein holziges Alterswerk. Dienlich wäre wohl gewesen, nicht einen Musiker für zig Tonspuren mit Mandoline, Steel & Co. einzusetzen, sondern gemeinsam als Gruppe zeitgleich und organisch die Aufnahmen zu machen. Dann wäre den Beteiligten vielleicht selbst aufgefallen, wie sich manches zieht und anstrengend wirkt.

Der Ärger über den "Zeitgeist" kommt gar nicht immer so deutlich heraus, wie es die gleichnamige Single erwarten ließ, obgleich hier und da Kritik an den "Mächtigen" und deren "Lügen" anklingt. Musikalisch verwässert und verschwimmt öfter mal das Kantige und zeigen sich die Lyrics dann etwas ihrer Strahlkraft beraubt. Interessant für Hinhör-Hörer*innen wäre wahrscheinlich eine Live-Variante des Albums auf CD mit einem Ticken weniger Schwulst und einem Quantum mehr Kick - denn das Songmaterial ist echt gut.

Trackliste

  1. 1. Ich Will Raus Hier
  2. 2. Schnee Von Gestern
  3. 3. Achterbahngedanken
  4. 4. Zeitgeist
  5. 5. Spieglein, Spieglein An Der Wand
  6. 6. Die Wahrheit
  7. 7. Ich Werde Dich Lieben Bis In Den Tod
  8. 8. Dunkle Fantasien
  9. 9. Es Geht Immer Nur So Weit Wie Es Geht
  10. 10. Abschiedslied
  11. 11. Wenn Wir Wieder Über Den Berg Sind

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