laut.de-Kritik
Neun Songs bilden die Blaupause des Trip Hops.
Review von Eberhard DoblerGleich das Debüt "Blue Lines" aus dem Jahr 1991 definiert Atmosphäre und Design des Sounds, der den Ruhm Massive Attacks begründet. Die Platte gilt zugleich als Blaupause des Trip Hops. Bevor man sich nun in nerdigen Diskussionen ergeht, ob die Genreschublade im Zusammenhang mit Massive Attack überhaupt geöffnet werden darf: Für "Blue Lines", "Protection" (1994) und "Mezzanine" (1998), die drei ersten Platten der Bristol-Gang, gilt: Bei jedem Track erfasst der Hörer sofort die Qualität und Besonderheit dessen, was da aus den Boxen schallt.
Sprechsinger und Graffiti-Veteran Robert '3D' Del Naja sowie die DJs Grantley 'Daddy G' Marshall und Andrew 'Mushroom' Vowles entsprangen dem legendären Soundsystem The Wild Bunch, dessen Parties Mitte der 80er in Bristol für Furore sorgen: Punk, Rock, Dance, Funk, Hip Hop oder Reggae - hier geht alles. Eine der Keimzellen, aus der sich der so genannte Bristol-Sound in all seinen Spielarten entwickelt. So besucht etwa ein gewisser Roni Size die Parties als Jugendlicher. Die Karriere eines Mannes namens Banksy nimmt ebenfalls in Bristol ihren Anfang.
Tricky oder Neneh Cherry (beide sind auf der Platte vertreten) gehören zum erweiterten Massive Attack-Kreis. Teile der Platte entstehen in Nenehs Haus, ihr Ehegatte Cameron McVey sorgt für die Koproduktion. 3D und Mushroom sind im Gegenzug 1989 in Nenehs Debüt "Raw Like Sushi" involviert: "Neneh Cherry war es, die uns damals in den Arsch trat - und ins Studio hinein", so Daddy G.
Und weiter: "Was wir damals versuchten, war, Dancemusic für den Kopf zu kreieren, weniger für die Beine". Darin mag vielleicht auch der Grund liegen, warum man die eingangs angesprochene Klasse emotional zwar sofort begreifen, aber gar nicht so richtig beschreiben oder erklären kann. Gerade der wohl bekannteste Albumtrack dokumentiert dies, "Unfinished Sympathy".
Ein aus dem Hip Hop entliehenes Beatverständnis, die BPM dabei in Richtung Dance-Tempo hochgeschraubt, dazu Percussions, Scratches oder ein synkopiertes kurzes Xylophonloop einerseits. Auf der anderen Seite ein genauso dominates Streicherarrangement, ein klares, aber spärlich eingesetztes Klavier sowie die weibliche Soulpopstimme (Shara Nelson) - der Track wirkt noch heute erstaunlich unkonventionell und fresh.
Zugleich transportiert "Unfinished Sympathy" jenes atmosphärische Spannungsfeld zwischen Melancholie und Optimismus, das an Massive Attack fasziniert. Gleichwohl fällt die Nummer tempomäßig und seiner Streicher wegen etwas aus dem Rahmen. Denn überwiegend bewegen sich die Stücke eher in einem meditativ psychedelischen Bereich, den der Popkritiker Simon Reynolds mit dem schönen Begriff "spliff tempo" beschrieb: Nicht wenige Nummern weisen eine Schlagzahl aus, bei der Drumschüler anfangen, Technik einzuüben. Etwa die dubbigen Stücke "One Love" oder "Five Man Army" mit tiefen Bässen und elektronisch generierten bzw. gesampleten Beats.
Eine Vorliebe für Rare Grooves tritt beim druckvoll kompakten Einheizer "Safe From Harm"
zutage, der auf Fusion-Drummer Billy Cobhams "Stratus" basiert. Massive Attack verschmolzen unterschiedliche Ansätze: die Beats des Hip Hop, die Düsternis britischer Elektronik ("Hymn Of The Big Wheel"), die Leichtigkeit des Funk und Jazz (der Titeltrack "Blue Lines") oder die positive Kraft des Reggae, aber auch die Sample- mit der Livelogik. Für Letzteres sorgt besonders ein geschmeidiger Flickenteppich aus oft mehreren starken Stimmen.
Dazu zählen der lakonische Trademark-Sprechgesang der Protagonisten 3D und Daddy G sowie Tricky und die emotional exaltierten Toasts von Roots Reggae-Haudegen Horace Andy, der in Zukunft als einziger auf allen Massive Attack-Alben vertreten sein wird. Neben entsprechend melodischen Samples öffnen vor allem seine sowie die Soul-/Pop-Stimmen von Nelson und Tony Bryan den im Kern roughen Sound Massive Attacks für breitere Hörerschichten.
Diese Vocal-Bandbreite bleibt ein weiterer Eckpfeiler im Soundverständnis der Briten - und spiegelt gleichzeitig den multiethnischen Background ihrer Heimat Bristol wider, der man zudem ein Herz für Bohemians nachsagt. "Blue Lines" trug den Soundtrack dieses Livestyles in die Welt hinaus.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
8 Kommentare mit 13 Antworten
Gutes, aber falsches Album. Mezzanine schlägt Blue Lines um längen, auch wenn der Ursprung hier liegt.
Ich kann mit der Wahl leben, auch wenn auch ich Mezzanine besser finde. Bei manchen Künstlern ist es müßig sich zwischen 2-3-4 Alben zu entscheiden, so auch bei MA.
#teamlauti, sollte klar sein. Aber diese nachweisliche Wendehalsung hier ist schon ein bisschen witzig
Naja, in 9 Jahren kann sich ja auch mal was ändern, Alde.
Unbedingt sogar! Die Komik speist sich halt zum einen daraus, dass es quasi der gleiche Post mit umgekehrten Vorzeichen ist und zum anderen aus deinem dbzgl. zweifelhaften Ruf, auch wenn ich, wie angedeutet, glaube, dass du ihn dir höchstens anteilig verdient hast
Ja, kann man schon schmunzeln, haste recht. Auch mit dem "anteilig"
Wobei es jetzt auch nicht ungewöhnlich für lauti wäre, wenn er beide Posts am selben Tag abgesondert hätte, ma sagen.
Das war jetzt mal ganz süß, tbh
die ersten drei alben sind allesamt zu unterschiedlich, als dass man sie miteinander vergleichen könnte. insofern isses nur der persönliche geschmack, der den ausschlag gibt. man hätte alle nehmen können. ergo: nicht falsch.
Für mich absolut nachvollziehbare Wahl über die ich mich sehr freue. Gerade weil das Album heute viel zu oft im Schatten der zwei Nachfolger genannt wird. Da ist es mal Zeit, wieder etwas mehr Licht drauf zu werfen.
absolut verdient. wir hatten die diskussion schon bei portisheads' dummy, welches m.a. album das "beste" ist. im prinzip müßig, die band verdient einen meilenstein, die ersten drei alben sind alle übergroß.
Album ist mir im Vergleich zu "Mezzanine" nicht stringent genug, daher hätte ich das lieber als Meilenstein gesehen.