11. November 2019

"Das Genre 'deutscher Soul' gibt es nicht"

Interview geführt von

Wer 2019 auf ein Konzert von Max Herre geht, erlebt viele textsichere Leute im Publikum, die "Esperanto" von Freundeskreis mitsingen. Dabei ist die große Zeit des Hip Hop-Kollektivs Freundeskreis schon 15 Jahre lang vorbei.

Seither hat Max Herre ein akustisches Songwriter-Album und eine "MTV Unplugged"-Show gemacht, Hip Hop mit internationalen Feature-Acts aufgenommen, Cro den Weg geebnet, die Karriere seiner Frau Joy Denalane mit aufgebaut, die Nische 'deutscher Soul' als einer von ganz wenigen besetzt und eine Staffel lang als Juror in "The Voice Of Germany" Kandidaten betreut. Auf seinem aktuellen Album "Athen" erzählt er in einem großen Reigen Geschichten mit meist autobiographischem Hintergrund, die alle mit Reisen, Unterwegssein, Aufbruch oder Rückkehr zu tun haben.

Auf der vorangegangenen Tour waren bereits mehrere sehr langsame Songs des Albums am Stück zu hören und sorgten für leichte Verwirrung. Ist das Trip Hop, Weltmusik, oder wie nennt man dieses leicht exotisch geschliffene Switchen zwischen Trap-Elementen, Oldschool-Boom Bap, Storytelling, mehreren Sprachen und Songbrüchen?

Stoff genug für ein ausführliches Gespräch an einem verregneten Freitagabend.

Der Titelsong "Athen" erzählt von einem Reisevorhaben und beschreibt recht plastisch ein Haus, von dem aus der Roadtrip beginnt, dort riecht es nach Terpentin. Mir hat sich bei dem Setting ein Film von Fatih Akin, mit Moritz Bleibtreu, aufgedrängt, "Im Juli". Wenn alles so genau und bildlich beschrieben ist, geht es denn hier um eine Reise, die wirklich so stattgefunden hat?

Den Film kenn' ich nicht, obwohl ich die Fatih Akin-Filme sonst fast alle kenne. Die Person, die beschrieben wird, gibt es, und es gab auch ein Atelier, das sie hatte, mit Terpentin und Leinwänden. Es roch nach Terpentin und es standen Leinwände herum, zum Teil und andere Dinge. Und Athen war auch Sehnsuchtsort, und es gab auch die gemeinsame Vorstellung da hin zu gehen. Und das hat nicht funktioniert. Das ist uns aber nicht erst gedämmert auf einer Tankstelle in Mazedonien, wie in dem Song beschrieben – sondern schon vorher.

Das war eine Vorstellung?

Ja, das war schon auch ein konkreter Plan. Die Person ging auch nach Athen. Nur ich ging nicht mit.

Du hast dir ausgemalt, wie es weiter gegangen wäre, wenn doch ...?

Ich bin dann zurückgereist, genau, an diesen gemeinsamen Ort. Und hab mir überlegt, was gewesen wäre, wenn – sozusagen. So funktioniert relativ viel auf der Platte ... in Erinnerung und in der Vorstellung: Was war da eigentlich los, und wie hätte es anders sein können?

Ich glaub, das ist ein Prinzip, das wir alle kennen. Für'n Songwriter ist das ein super Prinzip, weil es einem es einem einfach ganz neue Räume öffnet. Weil es unerzählte Geschichten möglich macht. Diese 'Weggabelung' kennen wir alle. Und tatsächlich isses aber auch eine sehr erinnernswerte Zeit. Es war mir auch sehr wichtig, der Person dann ein Denkmal zu setzen, in dem Song.

Lief das beim Songschreiben so, dass du die Erzählvarianten in verschiedenen Schichten aufeinander aufgetragen hast?

Tatsächlich ist diese Geschichte entstanden in der mündlichen Erzählung. Ich hab's jemandem erzählt. Der hat dann immer nachgefragt – 'ach, ihr wolltet nach Athen, aha, und wie war das?'

Konkret war ich zum Schreiben im Winter 2016/17 in Tel Aviv und habe für fünf Tage Tua eingeladen und Maxim. Ich hatte ein Fragment "mit fünf km/h auf der Autobahn", auch schon in Erinnerung an diese Beziehung, die ich da nicht mehr hatte, und hab ihm davon erzählt, und so ist dieser Song dann entstanden.

'Ja, und was wolltet ihr machen? - Ja, eigentlich hatten wir vor nach Athen zu fahren...' und so weiter. Plötzlich wurde über die mündliche Erzählung diese erlebte Geschichte wieder sehr präsent. Die Geschichte, aber auch diese Wunschvorstellung, die wir hatten - 'Athen, und wie wolltet ihr da hin, und wie hättet ihr das gemacht?'

Maxim und ich, wir sind beide Stuttgarter, das heißt, er ist Reutlinger, und wir haben beide viele Freunde mit griechischen, türkischen, auch bulgarischen Wurzeln, denen diese Reise eben total gewahr ist. Weil sie sie als Kinder 100 Mal gemacht haben: also, die Transitstrecke, Balkanroute E 75 runter. Endet damit, dass wir einen Freund von ihm angerufen haben, Vassilim, und gefragt haben, 'wie war das nochmal genau? Ihr saßt da an dieser Tankstelle, erzähl mal. Und wie roch's da? und was habt ihr gegessen?' und so weiter. So dass wir da in die Forschung gegangen sind.

Ich selbst hab den Roadtrip nach Athen als Kind einmal gemacht, aber nicht über die Balkanroute, sondern wir sind über Ancona auf der Autobahn gefahren und dann auf die Fähre gewechselt. Danach fährt man da auf der Fähre zwei Nächte und drei Tage, landet in Patras, am westlichen Zipfel des Peloponnes, und fährt über den Zipfel des Peloponnes dann nach Athen. Das war um 1980.

Da wäre dann die Fähre mit drin gewesen. Ich fand aber diese Transitstrecke interessant, weil Transit für mich so'n Bild ist für: Man kann eigentlich nicht abfahren, also gibt keinen Ausweg – und da lag für mich viel drin, für diese Geschichte.

Jetzt kann man ja symbolisch sagen, das ist das politische Thema der letzten Jahre, nur du fährst sie südwärts. Und diese Leute in den Lagern, die Norbert Blüm medienträchtig besucht hat, die haben ja genau diese Ausweglosigkeit, dass sie dort festhängen aber auch nicht zurück können ...

Also ja, zum Teil kamen ja Leute über die Balkanroute auch nach Mitteleuropa. Tatsächlich war das auch wirklich ein Bild für mich. Diese Tankstelle ... also je nach Blickrichtung sieht man das verliebte oder inzwischen nicht mehr so verliebte Pärchen, das auf dem unschuldigen Weg nach Athen ist. Und die Kamera schwenkt, und wir haben einen kleinen Kurzfilm dazu gemacht dazu, in dem es diesen Kameraschwenk wirklich gibt, und man sieht Leute, die auf 'nen Lastwagen aufspringen um gen Norden zu kommen.

Den Kurzfilm haben wir mit dem "Sans Papiers"-Song unterlegt. Es wird ein kleines Visual-Album geben, 20-minütig, auf dem das zu sehen sein wird. Das war auch die Idee vom "Sans Papiers", der irgendwie die Spiegelung von diesem romantischen Road-Trip in den Süden ist...

Sans Papiers sind in Frankreich die 'illegalen' Migranten ...

Genau, in der Schweiz auch: 'Papierlos' heißt das, ist eigentlich ein stehender Begriff da, und ich finde den sehr treffend und fand das auch sehr interessant in französischer Sprache, Yonii singt das, der nordafrikanische Wurzeln hat, wobei das Französische auch eine wichtige Sprache in Nordafrika ist. Yonii ist ein Sänger/Rapper aus Stuttgart, mit nordafrikanischen Eltern, der diesen Teil singt. Auf diesem Stück, "Sans Papiers".

Vom Setting her klingt das so, als ob es um Menschen geht, die sehr viel Freiheit haben. Ich meine, die meisten Menschen können gar nicht mehr Urlaub als drei Wochen im Jahr machen – deine Figuren sind aber Leute, die es hinkriegen könnten, oder?

Ja, durchaus, aber es war noch mehr. Es geht nicht darum, gehen wir jetzt für drei Wochen oder drei Monate, sondern: 'Wollen wir für immer weg und verschwinden? Wollen wir durchbrennen miteinander?'

So. Ich glaube, es ist eine ganz grundsätzliche Entscheidung, die man in aller Drastik auch mit Job treffen kann. Sagt, 'das ist mir jetzt alles egal'. Es ist ein Bild, ein Was-wäre-wenn-Moment, in dem man sagt, 'wir lassen alles stehen und liegen, es kann doch nur besser werden.'

Spannend, weil das ja in der politischen Diskussion fast immer fehlt, sich vorzustellen: Wie kommt es denn zu dem Punkt, dass ein sogenannter 'böser Wirtschaftsflüchtling' seine Migration beginnt. Mag ja durchaus Leute geben, die sich aus wirtschaftlichen Motiven aufn Weg machen aus Ländern wie Mali oder Gambia. Bis zu diesem Punkt fallen hunderte Mikro-Entscheidungen und werden Meinungen aus dem Verwandtschafts-, Bekanntenkreis, ergoogelte Fakten und Pseudofakten einbezogen und abgewogen. Aber wer würde sich gezielt für Griechenland entscheiden? Ist das Land mit einem positiven Image besetzt?

Also für mich war das nur positiv erst mal. Dieses Planspiel war verbunden mit 'weg-von-wo-ich-war', und das war eine Lebensphase, in der ich da wohl weg wollte. Es ist tatsächlich ein Planspiel geblieben. Dadurch, dass ich zu Athen 'ne Beziehung hatte und die Frau, um die's da ging, Deutsch-Griechin war, war das relativ nahe liegend. Tatsächlich auch, wie du richtig sagst, gekoppelt an das Privileg, das machen zu dürfen, mit einem deutschen Pass, einem Privileg, das viele nicht haben. Das einfach so zu entscheiden... Denn dieser Pass, den wir da haben, mit dem wir, glaube ich, 151 Länder bereisen dürfen, ohne Visum, der stellt ein absolutes Privileg da, das solche Songs erst möglich macht, ja.

Man könnte jetzt sagen, in diesem Fall war's 'ne Liebes-

Flucht!

Das ist natürlich sehr plausibel. Für die Liebe lernt man ja auch andere Sprachen ...

Es ist tatsächlich auch ein Ort, mit dem ich irgendwie sehr verbunden bin.

Der Titelsong "Athen" ist als Single schon einige Monate lang bekannt. Für eine Single ein überraschend langes Stück, auch für einen Song am Anfang eines Albums. Ist das eine bestimmte Sprache, oder so etwa wie bei "Adiemus" eine Fantasiesprache?

Nee, das ist Griechisch, und es ist Melina Kana, die da singt. Das ist ein A-Capella, das ich tatsächlich auch damals bekommen habe von der Frau, um die's da in "Athen" geht. Die schickte mir das. Und daran erinnerte ich mich. Dann haben wir das auf den Song gepackt. Ich hab's meinem Vater geschickt, dass er das übersetzt, und dann passte das auch inhaltlich.

Es ist ein traditionell kretischer Song, und Melina Kana ist eine bekanntere griechische Sängerin, die wir dann gefragt haben, ob wir das benutzen können. Dann hab ich sie in Athen auch persönlich getroffen, und sie hat auch im Videoclip noch mitgewirkt.

Dann ist da auch so ein 134 Sekunden langer, instrumentaler Mittelteil. Ist das Weltmusik?

Das weiß ich auch nicht so genau. Wenn der Name nicht so verpönt wäre und durch die 80er Jahre nicht so komisch konnotiert, wär's wahrscheinlich Weltmusik. Das Wort bekommt natürlich einen anderen Geschmack, dadurch dass es heute so tolle Labels gibt wie STRUT in London, die neue 'Weltmusik' auflegen. Aber ich kann's nicht sagen. Für mich ist es einfach nur ... frei ... es spielt mit sehr modernen Anleihen. Die Synthie-Pads, die wir benutzen, sind zwar alte Synthesizer, aber sie spielen schon, in trap'scher Manier einen Turnaround. Es ist ansonsten spärlich instrumentiert, was Beat angeht. Über Sachen zu rappen, die kaum Beat haben, finde ich sehr modern. Dann irgendwann gibt's 'nen musikalischen Bruch. Das kennt man inzwischen auch von Künstlern, die ich schätze: Kanye, als Producer glaub ich unumstritten, arbeitet viel mit Brüchen. Wenn man sich im Rap ein A$ap Rocky-Album anhört, gibt es auch psychedelische Anleihen und mal Brüche.

Mir gefällt das, und ich fand nach zwei Minuten Song, das muss jetzt aufreißen. Im Video haben wir die Band dann nach Epidaurus ins Amphitheater gestellt. Das hat für mich 'nen Pink Floyd'schen Moment, und der passte gut zum Song - denn man muss ja jetzt mal diese 200 Kilometer Sprachlosigkeit, die ich beschreibe, physisch spüren für zwei Minuten zumindest. Das war so meine Idee. Und es war der Song, der so irgendwie Titelsong zum Album ist, weil er den Ton setzt zum Ganzen und dazu, was denn die Welten sind, die ich da so verhandele.

"Die Tage des Worts 'Urban Music' sind gezählt"

Lustig, dass du das sagst mit Pink Floyd. Rein generationsmäßig würde man viel mehr 80er-Jahre-Einflüsse erwarten müssen bei dir. Pink Floyd sind ja nun noch älter ...

Also tatsächlich: Meine großen Einflüsse sind die frühen 70er Jahre, und ich weiß nicht warum das so ist. Ich bin 1973 geboren. Die Anfänge, die Bands, die ich zuerst entdeckt hab, habe ich in den 80er Jahren entdeckt und auch oft mit ihrer 80er Jahre-Musik, hatte aber immer Freunde, deren Freunde Plattensammlungen hatten, wo ich dann, wenn ich einen Song von Stevie Wonder aus den 80ern gehört hatte, "Part Time Lover" oder sowas, dann schnell auch auf die Platten aus den 70er Jahren stieß. Als ich anfing in Bands zu spielen, waren die 70er Jahre relativ schnell Referenzgröße.

Also wenn du dich erinnerst an die späten 80er, frühen 90er, mit der Acid-Jazz-Bewegung, auch mit der Hip Hop-Bewegung, um Native Tongues, die sehr stark auf frühe 70er-Jahre-Soulmusik referenziert hat; das waren so die Platten, die man dann gediggt hat und auf denen man Samples gesucht hat und die einem so am wichtigsten waren.

Warum ist Stevie Wonder denn so faszinierend und so wichtig für dich?

Ich glaube, er ist einfach ein Riesen-Songwriter, und er war eine der großen Ikonen seit den frühen 70ern. Seit er kein Kinderstar mehr war und anfing seine Platten zu machen, "Innervisions", Songs In The Key Of Life, "Music Of My Mind" und so weiter, war er, glaub ich, schon einer der großen Stars. Auch die jamaikanische Musik hat ihn viel gecovert. Es gibt ja Versions von allen großen Soul-Songs. Auf Trojan gibt's ja so 'ne ganze Box mit Soul-Coversongs, die total interessant sind.

Genau, Curtis Mayfield und alle möglichen wurden im Reggae gecovert.

Daa ist ungefähr alles mal gecovert – und ja, mit Stevie natürlich auch, wenn du dich an "Hotter Than July" erinnerst: "Master Blaster", er war einer ersten, der sich tatsächlich, auch mit "Boogie On Reggae Woman" - ich glaube schon auf der "Talking Book" oder "Innervisions" (Anm. d. Red.: auf "Fulfillingness' First Finale") bezogen hat auf Reggae. Vielleicht hat ihm das diesen Stellenwert eingebracht. Er hat sich
ja auch früh als Bob Marley-Fan geoutet, zum Beispiel.

Es gibt nicht so viele große Foren für deutschsprachigen Soul. Du warst gerade besonders oft am "Summerjam"-Festival beteiligt, fiel mir auf, acht Mal in 20 Jahren. Als Freundeskreis wart ihr zwei Mal dort, 1999 und 2004, kurz vor deinem ersten Soloalbum. Du warst 2010 und 2019 dort, wenn nicht noch öfter, deine Frau Joy Denalane hat 2002, '09, '11 und '17 dort gespielt. Das heißt ich nehme an, dir ist das Konzept dieser Veranstaltung sehr vertraut, oder?

Ja, also nicht nur das. Mein Jugendzimmer war voll mit Summerjam-Plakaten. Ich glaube '86, '87 hingen als Plakate bei mir damals die Line-Ups mit Aswad und Jimmy Cliff und Steel Pulse und wer da alles spielte, und das war tatsächlich auch die Musik meiner Jugend. Die erste Band, die ich hatte, mit 15 – da haben wir auch versucht Reggae-Musik zu machen.

Vom Konzept her finden viele ein so mit der Zeit gehendes Festival, das die Stilgrenzen überschreitet, auch doof; etwa weil sie meinen, ein 'pures' Reggae-Festival sei was Besseres. Es war dort immer ein Fusion-Gedanke drin, von Reggae, Hip Hop, Dancehall, Soul, Electro, Dub, Worldbeat, Ska, mittlerweile auch mit Trap und Afrobeats.

Also mir kommt die Mischung natürlich zugute, denn ich bin kein Reggae-Act und ich hab aber sehr gern da gespielt, ich hatte auch immer das Gefühl, es ist ein guter Rahmen und natürlich hatten wir da mit Freundeskreis auch Gentleman dabei. Es gab immer diese Affinität. Ich hab auch mein Songwriter-Album 2009 da gespielt – das hat irgendwie auch funktioniert. Insofern kommt's mir als Künstler zugute.

Andersherum, als Fan, und da geht's mir ein bisschen, glaub ich, wie vielen: Ich freue mich, wenn Toots & The Maytals Headliner ist. Weil es einfach ... mir ist das für das Festival total wichtig, dass ich da die Helden und Ikonen dieses Genres auch sehen kann. Denn das macht auch den Reiz aus, dieses Generationen-Ding: Dass man da junge Dancehall-Künstler sieht, aber dass man da wirklich die Veteranen sieht. Und dann auch gerne in zweijährigen Abständen immer wieder. So lange die noch touren.

Da ist ja immer noch die Pioniergeneration (Toots, Jimmy Cliff, Max Romeo, Marcia Griffiths) am Start. Wie beurteilst du denn den Zustand des 'deutschen Reggae'?

Gab's das je? Ich hab immer den Eindruck, es gibt dieses Genre nicht, das ist ähnlich wie deutscher Soul. Es gab zwar Joy (Anm.: Denalane), und ein paar wenige andere, aber es gab dieses Genre nicht. Mit Reggae ist es ähnlich. Ich finde ganz gut eigentlich, das hat Trettmann geschafft, dass das als Hip Hop mit gewertet wird. Das wird ihm manchmal nicht gerecht, und ich würde mir da Differenziertheit auf der einen Seite auch wünschen, aber andererseits ist es toll, wenn es unter jungen Leuten dieses Missverständnis gibt, weil es doch mehr Musikalität in die Rap-Musik bringt.

Auch wenn das Seeed-Album jetzt als 'Hip Hop-Album' firmieren würde, denn "Stadtaffe" haben sich die Hip Hop-Dudes ja auch angeeignet, und gesagt: 'Du, das ist aber einer von uns, das ist eines der wichtigsten Hip Hop-Alben.' Irgendwie stimmt das ja auch.

Wenn wir jetzt deinen Promoter beim Label fragen würden, würde er sagen: Das ist 'Urban' ...

Ja, genau, obwohl natürlich da inzwischen die Leute sagen: 'Was soll das ausdrücken? Es ist ja nur ein anderer Begriff für Black Music, und 'schwarze' Menschen verortet man in urbanen Räumen, und das ist ne Zuschreibung, die man heute nicht mehr machen sollte...

Black Music gibt's tatsächlich noch in manchen deutschen Plattenläden als Beschriftung.

Ja, interessant. Also, ich glaube, dass auch die Tage des Worts Urban Music gezählt sind und man dafür nochmal eine andere Bezeichnung finden wird.

Warum hat's denn Soulmusik in Deutschland so schwer? Trotz aller im Radio gespielten Mayor Hawthornes, Alicia Keys, John Legends, Michael Kiwanukas, Aloe Blaccs, Eli Paperboy Reids. Generell – also ob's jetzt aus Amerika, aus England oder auch von hier kommt?

(Zögert) Böse gefragt: Warum hat's gute Musik im Radio so schwer? (Lacht)

Du gibst ja wahrscheinlich immer noch Radio-Interviews für dieses Album?

Ja, werde ich machen. Genau. Ob ich mich diese Frage auch trauen würde zu stellen, meinst du?

Ja bitte.

Absolut! Ja, wir haben uns auch wahnsinnig beschwert immer. Wir sind als 'Die Beschwerer' in die Musikindustrie gestartet. (lacht) Also es gibt auch noch Formate, in denen man Musik bewusst hört, das will ich gar nicht bestreiten. Aber wenn man jetzt von der Radio-Landschaft spricht oder dem UKW-Radio, dann ist es nicht die Heimstätte der tollen Musik.

Früher gab's auch Formate, die Samples und Coverversionen analysierten. Jetzt machen wir das mal hier. Ich behaupte, dass in deinem neuen Song "Nachts" ein Sample aus "If I Were A Carpenter"(Tim Hardin) drin ist.

Das ist falsch!

Falsch? Aber die Ähnlichkeit ist verblüffend.

Da müsstest du dann tatsächlich jetzt zu Panta Rhei gehen, (lacht), die dann später Keimzeit wurden, und die dann danach fragen. Der Song basiert zu 100 Prozent auf einem Song von Panta Rhei und ist ein Sample von ihnen. Eine Ostrock-Band aus den 70er Jahren, sowas wie 'ne Supercrew, aus der dann später andere Ostrock-Gruppen wurden. Sie liehen sich für den Song die Stimme von Veronika Fischer, einer der großen Soul-Stimmen des Ostens. Neben Uschi Brüning. Mein Song beruht also komplett auf einem Song, der ebenfalls "Nachts" heißt (Anm.: aus der DDR, im Jahr 1973).

Titel wie "Eine Straßenbahn namens Sehnsucht", "Zwischen Heimweh und Fernweh" haben Bezüge zum Herbst, jetzt erscheint die CD ja auch im Herbst. Wie beurteilst du den Stellenwert von Melancholie und Nostalgie und solchen verklärten Gefühlen in der deutschen Kultur?

(Lacht) Das ist eine tolle Frage. Das kann ich dir auch nicht beantworten.

Musst du auch nicht. Du kannst sie skippen.

Hm, ich kann's für mich beantworten. Das ist etwas, was ich in der Musik sehr mag. Ich finde das ist etwas, das viele folkloristische Musik auch ausmacht, die ich gern höre von Rembetiko über Blues bis Fado. Das ist irgendwas, das durchaus mitschwingt in der Musik, die mir sehr nah ist und die ich sehr unverstellt finde. Auch im Klezmer oder im Tango, im Soul sowieso. Das ist was, das ich in der Musik suche, und da bleibt das dann nicht aus, dass man in den Texten diesen Gefühlen nachspürt.

"Trettmann ist ein fundierter Geschichtenerzähler"

Von "Szenen der Entfremdung, wir lassen Anwälte reden" und "Schuld, Trauer, Wut, Zweifel" singst du in deinem Track "Lass Gehen". Ist das ein Trennungslied, und wie sähe ein Video dazu aus?

Es ist ein Lied lange nach einer Trennung, und es ist ein Lied darüber, dass man die schmerzhaften Erinnerungen gehen lässt. Also "Lass Gehen" ist die Aufforderung zu sagen: 'Ey das was uns bremst und zurückhält – lass uns damit versöhnen und weiter gehen.'

Ein fertiges Video ist dazu nicht entstanden. Aber ich saß kurz tatsächlich in Thessaloniki an der Promenade, und sang vor der Kamera ein paar wehmütige Worte aus dem Song. Wir haben's letztlich nicht verwendet, weil es ein bisschen verwackelt war. Aber das war schon ganz gut so als Setting. Es ist ein bisschen Sitting On The Dock Of The Bay und man guckt da aufs Meer raus.

Da sind ja auch so ein paar französische Sprachschnippsel drin. Teilweise wirkt es ein bisschen wie Dialoge aus Klinik- und Arztserien?

Der Song jetzt im Speziellen?

Ja.

Hm, wenn das jetzt der Eindruck ist, dann .. ist es mir nicht besonders geglückt. Ich hätte es bisschen höher gegangen.

Welche Funktion haben diese französischen Parts?

Das ist Maxim. Mit Maxim habe ich viel fürs Album geschrieben. Er ist ja Halbfranzose, er singt das, und es ist ein sehr schöner Text, den er da auf Französisch singt ...

Ein paar Zitate: "Als du wiederkamst / Philadelphia / hing der Himmel hier seltsam tief" – Philadelphia, ist das ein Mensch, oder ... geht's da um Philadelphia-Soul vielleicht?

Philadelphia ist 'ne Stadt!

Ja, Philadelphia ist eine Stadt, auch. "Streets Of Philadelphia".

Als du da wiederkamst, aus der Stadt, Philadelphia, da hing der Himmel hier - hier ist Berlin, da ist der Song geschrieben - da hing der Himmel seltsam tief. Heißt: Hier war Scheiß-Wetter, als du wiederkamst. Heißt, die Stimmung war schlecht. Also ich hab noch keine Arztserie gesehen, in der Menschen so miteinander reden, aber wenn du mir eine empfehlen wollen würdest, würde ich mich freuen.

Die deutsche Synchronisation von "The Good Doctor" – aber es ist keine schlechte Serie, nur an manchen Stellen denk ich mir: 'Hey, hättet ihr's einen Ticken anders übersetzt, wär's nicht so allgemein.'

Also ich finde das sehr spezifisch, für mich, das beschreibt für mich ein ganz klares Bild, und ein Bild, das ich auch in mir wiederfinde. Das zu 100 Prozent auch so war. Aber - ist ja nicht schlimm.

Kommen wir zu meinem Lieblingssong auf der Platte, "17. September": "Es war Frühling 86 als er sagte / Komm wir gehen auf große Fahrt / Mit weinrotem Passat". Ich mochte den Song sofort und hab mich aber gefragt, wie autobiographisch das ist oder in welche Richtung es geht.

Ja, das ist ein Song mit Erinnerungen an meinen Vater. Das ist ein Song an meinen Vater, genau ...

Der dir ja auch den Zugang zu deiner eigenen Musik eröffnet hat.

Auch, ja. Genau. Es gab diesen Road-Trip zum Beispiel in diesem Auto, und das sind Beschreibungen dieser Zeit.

"Es sollte nur ein Jahr sein, für die Arbeit / nach Athen. So hieß es / Bis er fuhr / Und erst wiederkam nach sieben Jahren ...", heißt es im Text. Spannend, wie das alles so zusammen geht in diese Reise-Richtung. Würde es denn Sinn ergeben, die komplette Platte so als Konzert-Set aufzuführen?

Ja, ich weiß nicht, ob's zu eintönig wird, irgendwann. Zumindest isses 'ne Platte, die sich nicht super gut betanzen lässt. Und das wäre auf einem Konzert schon auch für uns Musiker mal ganz schön, wenn man ein bisschen tanzen könnte. Ich weiß es noch nicht. Nun ja, wir haben ein paar Songs auch live gespielt, auch hintereinander weg, und es funktioniert auch. Man kann sie in Inseln aufteilen, in je drei, vier Songs am Stück, und dann funktioniert's meiner Meinung nach besser. Aber ja: Die Idee ist schon, live zumindest in diese Platte mal 'reinzufahren'.

Nachdem du ja mit dem Unplugged-Format, wie eigentlich jeder, der das ausprobiert hat, Erfolg hattest, und auch mit einen akustischen Songwriter-Album – hätte denn hier zwischendrin mittendrin mal ein Unplugged-Titel auch gut reingepasst?

Einen Song wie "Lass Gehen" finde ich jetzt schon sehr organisch.

Ja, organisch ist er. Aber auch recht üppig, und dadurch, wenn man das früh zum Aufstehen hört oder auch spät am Abend, finde ich's schon sehr ermüdend vor lauter Input.

Ah interessant. An einem Song wie "Das Wenigste" kann man jetzt wenig abschlagen. Da ist im Wesentlichen Klavier, dann kommt relativ weit hinten ein Chor dazu, aber für mich ist das einer der 'kleineren' Songs.

Ja, in dem Falle ist es überraschend, weil es hin und her springt: Es gibt auf deinem Album angejazzte Sounds, dann so gesampeltes Vinylknistern, zwischendurch kommen Traum-Sounds, dann aber prallen dagegen hart abgemischte Drum Machines. Mich zum Beispiel stören sie. Ich beschreibe mal meinen Höreindruck: Also, ich hatte mal mit 19 einen Hörsturz, und wenn dann plötzlich solch klirrende Beats in ein relativ ruhiges, leises Umfeld krachen, schmerzt mir das in den Ohren. Wie kommt es dann dazu, in deiner Generation jetzt auch noch das Crunk-Pflaster zu betreten oder auf die Trap-Schiene abzufahren?

Es wirft noch was ins Spielfeld, eine andere Art von Groove. Wenn man aus dem Boombap-Hip Hop kommt, der ja sehr homogen war und einfältig im Beat-Programming, ist das eine Spielart, die total gut. Zumal man beides gleichzeitig hat: Du kannst es Halftime empfinden, auf 65 bpm. Aber wenn du das live spielst, springen plötzlich alle, weil sie's Doubletime empfinden. Das finde ich spannend. Tatsächlich finde ich hier genau diesen Mix aus einem Beat, der Trap ist, und dieser Sample-Welt, sehr interessant. Und das referiert auch auf Leute, die ich total gern habe. Viele Producer aus dem TDE-, Kendrick Lamar–Umfeld, die genau in dieser Welt arbeiten. (Anm.: TDE = Top Dawg Entertainment) Das mag ich total gern. Das Sample ist ja sehr nah an dem, was ich bisher gemacht habe. Der Beat fasst das eben ein bisschen anders auf. Das gibt mir nochmal eine andere Spielmöglichkeit.

Trettmann ist nur auf dem Song "Villa Auf Der Klippe" dabei? Ganz platt gefragt: Wie ist es so mit ihm?

Ja, der ist nur dort drauf. Das ist ein wahnsinnig toller Typ, und ich halt ihn für einen unglaublich guten Musiker und Songwriter: Wahnsinnig gute Melodiebögen. Vor allem ein unglaublich toller, fundierter Geschichtenerzähler! Wir sind, glaube ich, alle total glücklich, und das ist wohl auch die große Welle der Begeisterung, der Sympathie, die ihm entgegen schlägt, dass er's wirklich geschafft hat, auf der letzten Platte, mit Mitte 40, endlich auch eine Plattform dafür zu kriegen, die ihm ein Leben daraus garantiert.

Hm. Jemand, dem ich auch mal den Durchbruch wünschen würde, ist Teesy. Einer der wenigen, die es im deutschen Soul gibt. Ist das jemand, den du verfolgst? Chimperator-Label, diese Richtung?

Ja, am Anfang voll! Wir hatten auch einmal miteinander zu tun, und zwar auf Cros Unplugged, da haben wir uns einen Song geteilt. Ja, er ist ein unglaublich talentierter Sänger und Musiker. Durchaus!

Jetzt ein Bruch, ein paar kurze Fragen, mit der Bitte um eine kompakte Antwort: Im WDR "Rockpalast" wurde eine Umfrage zum Thema Homophobie mit einem Statement von dir auf dem Summerjam zusammen geschnitten.

Ha, interessant.

Findest du, dass mit dem Thema professionell umgegangen wird? Die Reihenfolge war, dass der WDR gesagt hat, er gehe nicht hin, wenn Buju Banton dort auftritt und sich nicht von einem Song distanziert.

Ah, verstehe. Also, ich hab die Diskussion nicht mitbekommen, als ich das Interview gemacht hab. Danach hat mir jemand davon erzählt. Da wunder ich mich ein bisschen, dass ich dafür herhalten musste. Ich kann mich auch nicht erinnern, eine Frage dazu gestellt bekommen zu haben. Deshalb weiß ich nicht, warum ich da auftauchte. Da weißt du jetzt mehr als ich. Sowohl über den Kontext, als auch darüber, was ich da gesagt habe.

Scheinbar zielte das Interview genau darauf?

Ja, also - das finde ich jetzt relativ unseriös, wenn man plötzlich wo auftaucht und nicht genau weiß, warum und zu einem Thema, das wichtig ist und wozu man sich zwei Minuten Gedanken machen muss. Wenn man da antworten soll.

"Du schreibst einen Dreck über mich, ich schreib einen Track über dich!" Von dir, aus dem Song "Exclusivinterview". Wann hast du dich zuletzt über Journalisten geärgert oder worüber?

Ach, ich ärger mich immer weniger.

Man stumpft ab oder rechnet immer mehr damit?

Hm, man rechnet vielleicht immer mehr damit, und es ist einem irgendwann klar, das ist das Learning jeden jungen Musikers, dass das, was man raussendet, nicht Eins zu Eins so rezipiert werden kann. Und dass das auch nicht die Aufgabe von Presse ist, das so zu tun. Oder das immer so zurückzuwerfen zu dir, dass es dir eins zu eins gefällt. Da müssen, glaube ich, alle Künstler einmal durch.

Die Wendung "Leg' dein Ohr auf die Schiene der Geschichte" wird dich wahrscheinlich so begleiten wie Shaggy die Worte "Romantic Fantastic Boombastic"; es ist einfach eine wichtige 90er Jahre-Line. Wie entstand sie?

(Lacht) Ich hatte einen Nachbarn, der gleichzeitig mein Geschichtslehrer war, der das in irgendeiner Unterrichtsstunde mal sagte, und ich fand das gut.

Abschließende Frage: Mit welcher der folgenden drei Damen würdest du gerne mal etwas gemeinsam machen, wenn überhaupt mit einer: Lena, Nura, Juju?

Ähm. Äh ... Nura, Juju! Lena? Ja, warum nicht?! Ja. Nee, alle interessant. Ich glaube, in der Reihenfolge: Juju, Nura, Lena.

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