laut.de-Kritik
Von blutenden Bäumen, Wikingern und Präraffaeliten.
Review von Adrian MeyerIm Zentrum von "Out of Our Minds" (oder "OOOM") steht das Herz: "Travel out of our minds, into our hearts standing by". Lass dein Hirn links liegen und hör auf dein Herz. Die Auf der Maur hat sich für ihren Zweitling ein wahrlich mit Metaphern beladenes Sujet ausgesucht.
Opener "The Hunt" beispielsweise beginnt mit Herzschlägen und steigert sich wortlos, dafür mit einigem Gestöhne und Gegrunze, in orgiastische Dissonanz. Perfekten Kontrast dazu bietet der grandiose Titeltrack "Out Of Our Minds". Melissas erotisch-klare Engelsstimme versprüht eine wohlige Bekanntheit, trotz düsterer Grundstimmung und ebensolchem Videoclip (Autocrash, Feuerball im düsteren Wald, blutende Bäume). Ach was haben wir dich vermisst, Melissa!
"Out Of Our Minds" entführt den Hörer in längst vergangene Zeitalter voll düsterer Wikinger und nebelbehangenen Sümpfen. "Come sit by my fire" singt Auf der Maur und fordert zum Abschied von übermäßiger Verkopftheit auf.
Der Song scheint zur bewussten Hinwendung zum Primitivismus und gleichzeitiger Abkehr von moderner Rationalität einzuladen, was durchaus seinen Reiz hat. Wer möchte nicht gern dem grauen Technikalltag der postindustriellen Gesellschaft entfliehen und Zuflucht in einer Zeit suchen, in der alles reiner, natürlicher und einfacher strukturiert war?
Genau hier folgt Melissa Auf der Maur dem Credo einer romantisch-eskapistischen Kunstströmung in der Mitte des 19. Jahrhunderts: Die Präraffaeliten wollten mit ihrer Malerei aufrichtige Ideen ausdrücken, direkt und vom Herzen kommend. Ihre Kunst war geprägt von einer mystifizierenden Hinwendung zur Natur und zum Mittelalter. Auf der Maur hat in der Kunstgeschichte gut aufgepasst, wie es scheint.
Obwohl der Fokus der Platte auf dem blutpumpenden Organ liegt, fehlt auf "OOOM" glücklicherweise jede Spur von ausgeleierten mein-Herz-schmerzt-Metaphern ("The One" ist das einzige Liebeslied). Dafür ist Melissa eine viel zu gute Songwriterin. Sie schafft es, die undenklichsten Lyrics in packende Rocksongs zu verpacken ("Follow The Map", "The Key") wobei sie dabei nicht zögert, auch ein wenig mit Elektronik zu flirten.
Schließlich sind nun mal auch an Auf der Maur die Nullerjahre nicht spurlos vorbeigegangen. Hie und da finden sich interpolesque Anleihen mit den Editors im Schlepptau. Am deutlichsten geschieht dies auf "22 Below". Der Song könnte auch aus Paul Banks Feder stammen.
Die zweite Hälfte der 55-minütigen Platte liefert hingegen zwei wahre songschreiberische Höhepunkte. "Meet Me On The Dark Side" ist Melissa at her best. Der Refrain hat eine solch düster-traurige Melodie, dass es einem beinahe das Herz zerreißt. Da schreit die Sehnsucht!
"Father's Grave" hingegen ist gänzlich Melissa-untypisch, aber gerade deswegen brillant. Auf der Maur hatte die Ehre, als erste überhaupt mit Glenn Danzig, Sänger der legendären Misfits ein Duett einzusingen. Die beiden bilden ein perfektes Paar für ein Lied, das auch ein passender Soundtrack für einen Tarantino-Film wäre. Der bluesige Song beinhaltet einen schaurig-schön gesungenen Dialog zwischen einer Frau, die ihren Vater verloren hat und einem Totengräber, der ebendessen Grab schaufelte. Er kann sicherlich als Melissas finaler Nachruf auf ihren 1998 an Krebs gestorbenen Vater verstanden werden.
Nicht immer jedoch funktioniert das magisch-mystische Bilderbombardement. "Isis Speaks" zum Beispiel ist massiv überladen, trotz sechs Minuten Länge und stellenweise mitreißenden Passagen. "This Would Be Paradise" ist mäßig interessantes Füllmaterial.
Sechs (!) Jahre ließ sich Melissa für "Out Of Our Minds" Zeit. Von ihrem früheren Label gedroppt und inmitten rechtlicher Probleme stürzte sie sich 2006 in die Unabhängigkeit. Die konsternierte Abkehr vom Major EMI hat sich ausbezahlt: "OOOM" ist ein (bild-)gewaltiges Multimediaprojekt inklusive Kurzfilm, Comicbuch und dazugehöriger Homepage. Unterstützt wurde sie dabei einmal mehr von (befreundeten) hochkarätigen Musikern und Produzenten (unter anderen Jordon Zadorozny, Alan Moulder, Chris Goss, James Iha, Mike Fraser). Eins ist klar, die schöne Frau spielt definitiv nicht mehr die zweite Geige.
Viel von der alten Melissa ist geblieben, trotzdem hat sie sich ihre eigene musikalische Welt erspielt. Ihr gelingt mit "OOOM" der finale und verdiente Befreiungsschlag als Solokünstlerin. "Out Of Our Minds" schießt direkt ins Herz des Hörers und hat auch jenes des Schreibenden im Sturm erobert. Von der bassspielenden Sängerin selbst ganz zu schweigen.
5 Kommentare
ich habe leider noch nie eine solo album von ihr gehört, aber die rezension hört sich verdammt gut an. werde ich definitiv reinhören.
and btw, beste verlinkungen des jahres, 'zweite' - 'geige.'
Gibt ja auch nur ein anderes Solo-Album (das ich auch nicht kenne), aber das neue ist absolute Spitze!
Tim
aso, ich hatte mal was von "solo-karriere" gelesen und dann mit viele veröffentlichungen gerechnet.
sehr geil.
Das Debut heißt "auf der Maur" und ist in der Tat geil, halte die Frau für ein Genie! Bin auf das neue Ding hier sehr gespannt.