laut.de-Kritik
Ein bizarres Trip Hop-Biest: sexy, komplex, verstörend.
Review von Johannes JimenoMolokos Debüt "Do You Like My Tight Sweater?" lässt sich nur schwer in Worte fassen, weil es wie ein unzähmbares Ungetüm auf den Hörer zurast, kräftig zupackt und für knapp eine Stunde nicht mehr loslässt. Die schiere Masse an verschiedenen Stilrichtungen, Sounds und Beats aus dem Dickicht des britischen Trip Hop überfordern beim ersten Mal gnadenlos. Doch dieses Biest besitzt einen sonderbaren Charme, dem man sich nicht entziehen kann: Die unverwechselbare und versatile Stimme von Sängerin Róisín Murphy.
Auf einer schäbigen Party in Sheffield hatte Murphy, damals zarte 19 Jahre, den renommierten Producer und Musiker Mark Brydon angesprochen. Ihren Anmachspruch "Do you like my tight sweater? See how it fits my body!" wiederholt sie wie ein Mantra immer und immer wieder, und Brydon findet daran Gefallen. In einem Interview mit der Vogue erklärt die schöne Irin: "Wir sind mitten in der Nacht in sein Studio gegangen und haben mich aufgenommen, wie ich genau das sage. Und das war der Anfang. Zudem habe ich mich in dieser Nacht in ihn verliebt."
Beide sind bekennende Liebhaber des Klassikers "A Clockwork Orange" von Anthony Burgess. Darin gibt es den Cocktail 'Moloko Plus', von dem sie den Bandnamen abkupfern. Moloko ist russisch für Milch. Doch Moloko Plus ist nicht mit einem White Russian zu verwechseln, denn er enthält verschiedene Substanzen, die die Psyche verändern. Beim Design des Albumcovers könnte man glatt meinen, dass Brydon und Murphy so einen Drink probiert hätten.
1996 erklimmen Moloko erstmals die Top 100 der UK Charts: die Single "Fun For Me" erhält einen Re-Release und steigt auf Platz 36 ein. Der funky Dancetrack mit knarzigem Beat, Filter-verzerrter Stimme und dem typischen Hinterhof-Charme der 90er trifft den Nerv der Zeit. Das Genre Trip Hop ist auf der britischen Insel gerade groß im Kommen dank der Vorreiter Massive Attack und Portishead. "Fun For Me" erhält jedoch als erster Trip Hop-Song Zugang zu einem breiten Publikum, weil es zum Soundtrack des Films "Batman & Robin" gehört - und das, obwohl man ungewohnte Onomatopoesie hört wie zum Beispiel: "I tickled by the minute hand / tick tock, tick tick tock" oder auch "Scooby Doobie, a-where would you be? / bow wow wow wow".
Dem aufmerksamen Hörer fallen beim ersten Durchgang seltsame Skits auf, die den Fluss des Albums zwar nur für wenige Sekunden unterbrechen, ihm aber eine verschrobene Note geben. Róisíns Flirtversuch lauscht man in "Tight Sweater", jedoch fällt dieser nicht so sexy aus wie man es erwartet, sondern eher verstörend-lasziv. Als ob ein Alien versucht, sich einen Erdling zu krallen.
Das daran folgende "Day For Night" legt das Skurrile ab, und Murphys Vortrag gerät betörend-verrucht. Der federleichte Einstieg samt Deep House-Synthies verleiht ihrer Stimme einen edlen und zugleich mysteriösen Rahmen, der ein Liebesspiel mit großer Intensität durch eine unterkühlte Femme Fatale darstellt.
"Dominoid" reiht sich in die Liste der zugänglichen Songs mit ein, pumpt eher zurückhaltend und mit tiefen Bässen aus den Boxen. Die verzerrte Stimme und der kleine Cool Jazz-Anteil evozieren eine gelassene Stimmung. Textlich geht es um Naivität, schwierige Arbeitsbedingungen und den Appell, sich durchzusetzen: "Lady look illusive but I do what I can / better be a day as a lion / than a lifetime as a lamb."
Moloko hegen indes übergeordnete Gedanken und verpacken diese als relaxten Trip namens "Boo". Hinzu kommen Überlegungen über die eigene Existenz: "I'm tired of living in my brain / I feel no joy, I feel no pain / I don't live, I just exist / I need to know the life I missed ". Es ist einer dieser berührenden Momente auf diesem Longplayer, der aus dem Dickicht der verrückten Beats empor sticht.
Der Zungenbrecher "Where Is The What If The What Is In Why?" legt sofort los mit den Lyrics und gewährt kein Intro. Die Instrumentalisierung verhält sich zurückhaltend, für Moloko-Verhältnisse sogar fast schon straight. Weiche Bläser beenden die Flut an seltsamen Fragen seitens Róisín: "What do you dream of when you sleep at night? / See how the blind man fills up with light / What is the bird with nowhere to fly? / How can you leave and not say goodbye?"
Kommen wir nun zu den Songs, die dieses Album so einzigartig machen. "I Can't Help Myself" vergnügt sich mit wilden Vocal-Spielereien, und Murphy wechselt von Gesang auf Spoken Word wie auf einem Poetry Slam. Musikalisch bilden ein deftiger Basslauf und 2-Step-Beats das Fundament, auf dem Brydon seiner Kreativität freien Lauf lässt: Drums, fiepende und dröhnende Sounds, Rhythmuswechsel - Komplexität wird bei Moloko groß geschrieben, genauso wie knallharte Stilwechsel, denn als verträumtes Interlude fungiert "Circus" mit einer sanften E-Gitarre.
"Lotus Eaters" macht im Anschluss wiederum alles anders. Verschrobene Töne, überall Dissonanzen, spacige Synthies, der Funkworm und Funkbass bestellen einen sperrigen Acker, auf dem die dazu passenden kryptischen Lyrics gedeihen. Als weiteres Gewächs sprießt der funky-durchgeknallte Skit "On My Horsey".
Wer sich schon immer als Fremdkörper auf einer Party fühlte, dem spricht "Party Weirdo" aus der Seele. Eine Fete voller seltsamer Gestalten, die man nicht kennt und nicht versteht und am Ende ist man plötzlich selber der 'Weirdo', weil man sich nicht unterordnet. Ton-technisch brillant suggeriert Brydon mit vielen Stimmfetzen eine Party und dreht Murphys Stimme oftmals durch den Fleischwolf. Schiefe Streicher und ein klassischer 90er-Beat lassen den Kopf vergnügt wippen.
Der Skit "Tubeliar" irritiert im Anschluss durch rückwärts abgespulte Vocals und losem Gitarren-Rumgezupfe und geht nahtlos in "Ho Humm" über. Noch nie klang einfaches Summen so sinnlich wie hier. Feiner Ambient, kein Refrain und hibbelige Synthesizer-Melodien à la Daft Punk laden zum Tagträumen ein.
Doch mit all dem begnügen sich die beiden Briten nicht, sondern treiben ihre faszinierende Sonderbarkeit auf die Spitze: "Killa Bunnies" vollführt ein klaustrophobisches Kammerspiel, Murphy setzt ihre Stimme kraftvoll und Furcht einflößend ein und gegen Ende bricht sie komplett aus und verwandelt sich in eine Rockröhre. Der bekloppte Text über mordende Kaninchen und die wummernden E-Gitarren tun ihr Übriges.
Das finale "Who Shot The Go Go Dancer?" ist sowohl dreist als auch ohne Sinn. Eine alte Frau - zumindest scheint es so - erzählt in knappen 22 Sekunden die Geschichte einer erschossenen Tänzerin. Daraufhin hört man geschlagene 5 Minuten absolute Stille, bis ein Nachspiel ertönt. Schlagzeug, Gitarre und eine derangierte Murphy sorgen für das Ambiente einer verrauchten Kneipe.
"Do You Like My Tight Sweater?" ist nichts für Konformisten, für Schön-Wetter-Hörer oder Zartbesaitete. Es ist ein Album, das erschlossen werden will und auf das man sich einlassen muss. Vertrackte Beat-Kompositionen, verwirrende Skits und der große Hang zum Experimentellen hüllen das Moloko-Debüt in einen sperrigen und opaken Mantel ein. Jeder Track mit Ausnahme von "Killa Bunnies" geht über vier Minuten und lässt sich viel Zeit.
Róisín Murphys außergewöhnliches Organ, das zwischen verführerisch-sexy und aggressiv-arrogant pendelt, leuchtet strahlend hell im Pop-Einerlei der 90er. Zwar zaubern sie später mit "Bring It Back" und "The Time Is Now" noch größere Hits hervor und mit "Statues" ihr wohl ausgefeiltestes Album, doch dieser Rohdiamant schleift sich erst durch den Hörer zum großen Juwel.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
2 Kommentare mit 2 Antworten
Moloko ist berechtigt und eine gute Wahl als Meilenstein vor allem das Album. Aber jetzt wird es wirklich mal Zeit für Yes oder ELO.
Sicher, aber Zeit wird es für so viele. Und die werden nicht alle dran kommen können. :-/
Yes? Yes!
Hoffe mal, es stört hier keinen, wenn das jemand hört, der jünger ist als das Album.