laut.de-Kritik
Die Niederkunft der Todgeglaubten galt lange als undenkbar.
Review von Michael SchuhWahrer Glaube allein reichte nicht aus, da waren sich die Türsteher einig. Man musste schon eine Eintrittskarte vorzeigen, um dazu gehören zu dürfen. Doch bei Göttern soll man nicht knausern, auch dann nicht, wenn der flüsternde Mann vor der Halle den dreifachen Ticketpreis verlangt. True Faith, eben. Die Niederkunft der Todgeglaubten galt lange als undenkbar. Zwischen 1993 und 1999 waren New Order nämlich vor allem out of selbiger. Zuviel ging vor die Hunde damals: das Factory Label, der Hacienda Club in Manchester und schließlich die Freundschaft. Also wurden neue Freunde gesucht, die auf die Namen Electronic (Bernard Sumner), The Other Two (Stephen Morris) und Monaco (Peter Hook) hörten.
Acht Jahre später prangt "Tonight: New Order" auf der Tafel über dem Eingang der Columbiahalle. Als seien sie nie weg gewesen. So klingt auch "Get Ready", der neueste große Wurf zurück ins Popgeschehen. Spätestens beim Hören der Scheibe wurde einem wieder bewusst: New Order sind wichtig. Immer gewesen. Legionäre der Tanzboden-Erruption. Dies findet auch der frühere Star-Producer Arthur Baker, der den Altherrenausflug als Tour-DJ begleitet. Seine verworrenen Tunes gehen in die Beine, etwa wenn er Missy Elliott in eine "Good Vibrations"-Rockversion mixt. Bei New Orders "Confusion" begehrt die Menge auf. Weg mit dem zottelhaarigen Kerl, die Originale müssen her, und zwar sofort.
Viertel nach Neun verkündet ein Tourbegleiter samt deutschem Übersetzer vom Bühnenmikro aus: "New Order sind leider verhindert und können nicht spielen. Doch wir haben Ersatz gefunden. Please welcome: Joy Division". Jubel. Licht aus. "Crystal". Plötzlich stehen sie vor einem, die ehemals sinistren, jetzt aufgedunsenen Helden der eigenen Jugend. Doch Barney Sumner wirkt immer noch furchtbar symphatisch mit seinem Lausbubengesicht, während an Basser Hook in erster Linie der auf Kniehöhe baumelnde Bass fasziniert. Für die verhinderte Keyboarderin Gillian Gilbert ist ein Gitarrist ins Line Up gerutscht. Die Band rockt dementsprechend nach vorne. Alter schützt vor Rhythmus nicht. Einzig der Mann am Mischpult wird es sich den ganzen Abend nicht trauen, Hookys tollwütig lärmenden Bass runterzudrehen.
Dennoch werden wir Zeugen einer beeindruckenden Werkschau, die keine Wünsche offen lässt. Gleich der zweite Song ist das uralte "Transmission". Sumner ist gesprächig. Freut sich mit Deutschland für die WM-Qualifikation und schiebt hinter jede Anspielung ein "only joking". Warum er ab und an seinen Blick nach unten schweifen lässt, erklären zwei Monitore, die dem gealterten Sängerknaben uneingeschränkte Textsicherheit garantieren. Dafür ist er sehr gut bei Stimme, auch wenn wir ihn leider nicht allzu oft hören im Trommel-und-Bass-Getöse. "Regret" bleibt der einzige Beitrag des "Republic"-Albums, vom neuen brilliert die Hammersingle "60 Miles An Hour", "Close Range" und im Zugabenteil "Rock The Shack". Blickfang auf der New Order-Bühne ist und bleibt konkurrenzlos Hookys Ausfallschritt-Posing, während Barneys Versuche, einbeinig das Gleichgewicht zu halten, eher amüsieren. "Heaven knows it’s got to be this time" singt er in "Ceremony", einem der ersten New Order-Stücke. Gänsehaut, Baby. Die Zeitspirale dreht sich noch weiter. "Atmosphere" und "Love Will Tear Us Apart", Perlen der unvergessenen Joy Divison, rücken die Realität in weite Ferne und lassen einen im dichten Synthesizer-Nebel erschaudern. In "Touched By The Hand Of God", einem der besten Livesongs, schreit Sumner ungewohnt leidenschaftlich. Die Hits dürfen wieder Spaß machen.
Ein toller Abend. Aber halt, da fehlt doch noch was. Genau: "how does it fee-eel". Seufz. "Blue Monday". Nun, man kann eben nicht alles haben ... Doch! Als ob sie es nie anders kannten, hauen die Briten auch den letzten, den eigentlichen Kracher ihrer Karriere raus. Die Bassdrum wummert steinhart über die Köpfe hinweg, erst als Hookys Bass lostobt wissen wir, dass Sumners Tieftonvortrag auch diesmal nicht zu hören sein wird. Aber das macht nichts, denn wir singen mit. LAUTHALS. Und wenn New Order noch mal kommen, sind wir wieder dabei. True Faith. Diese Nummer war besonders schön.