laut.de-Kritik
Eine Pause für das K-Pop-Wettrüsten.
Review von Yannik GölzTikTok-Musik hat ein denkbar schlechtes Renommee. Kurze Clips, tanzende Kids, was dahinter dudelt, das muss eigentlich nur eine kurze Stimmung transportieren. Oder ein Meme sein. Der moderne Klingelton, quasi. Trotzdem: Es hat sich in den letzten Jahren eine Kunst herausgeschält. Und es gibt durchaus einen Unterschied zwischen Zufalls-One-Hit-Wonders und Leuten, die TikTok beherrschen. Die Fraktion Lil Nas X, Doja Cat, PinkPantheress – hat eine Kunstform daraus gemacht, so viel Flavour und Charakter in ihre teils fragmentarischen Songs zu legen, wie es geht. Mit genau dieser Strategie drehen NewJeans gerade den K-Pop auf links. Die Ergebnisse sprechen für sich.
Seit dem phänomenalen "Ditto" hat die Gruppe von HYBE-Sublabel ADOR im amerikanischem Westküsten-Club-Sound eine Formel gefunden, die sie auf ihrer zweiten EP schamlos ausspielt. Die Formel lautet: Temporeiche Club-Beats gegen ätherische, fast ein bisschen melancholische Girlgroup-Harmonien.
Ein offensichtlicher Vergleichspunkt schält sich aus der Britin PinkPantheress, deren Songstrukturen und Bedroom Pop-Appeal sie definitiv auch ein wenig angezapft haben. Sie nutzt ähnliche Techniken des Kuratierens, angewendet auf die britische Electronica-Szene der 2000er, garniert mit DIY-Indie-Vocals. Man sieht den Referenzpunkt, NewJeans und ihre Regisseurin Min Hee Jin wissen aber offensichtlich recht genau, wie man sich das Rezept zu eigen macht.
Die Songs auf "Get Up" sind entsprechend allesamt überaus einschlägige, kurze Dopamin-Schübe. Was man dabei mehr als alles andere hervorheben muss, ist die Tatsache, dass die Produktion absolut Next-Level ist. Schon weil sie konstant perfektes Layering an Synth-Konterpunkten schafft, gut nachzuhören im atemberaubend schön aufgebauten Outro "ASAP", in dem sie drei Layers Vocals mit so viel Gezeiten-Schüben an Ambience und Synth ebben und fluten lassen, dass der kurze Song trotzdem mit das einschlägigste Sound-Design aufbringt.
Aber mehr als das noch ist das Mixing dieser Tracks schlicht makellos. Selbst in Songs wie "ETA", in denen objektiv nicht wahnsinnig viel passiert, nimmt jedes Element so viel Raum ein, wie es braucht. Die Drumbeats rattern gegen die atmosphärisch-flächigen Samples, die Vocals schmiegen sich reduktiv und entspannt an. Die Grooves auf diesem Tape sind so tight, wie es menschenmöglich wäre.
Dass diese Gruppe auch musikalisch dann im K-Pop-Feld gerade einiges an Gegenwind erfährt, ist konterintuitiv, aber ergibt Sinn: NewJeans markieren seit ihrem Debüt einen stillen Paradigmenwechsel im Genre. Die letzten Jahre waren gekennzeichnet von einem immensen, in anderen Genres undenkbaren Boom in Sichtbarkeit und Verkäufen. Einhergegangen ist damit ein seit ein paar Jahren schon andauernder Höher-Schneller-Lauter-Wettstreit, der in immer extravaganteren, megalomanischeren Konzepten und Song-Releases mündete.
Der bahnbrechende Erfolg von NewJeans beendet das Wettrüsten durch ein Wider-Entdecken des Understatements. Die Gruppe setzt erfrischend wenig darauf, den einzelnen Membern große Chancen zu geben, sich hervorzutun. Es gibt keine markerschütternden hohen Noten und keine gigantische Bridge. Vieles davon sind Dinge, die den K-Pop im Gegensatz zum westlichen Pop, der diese Entwicklung schon seit 2016 durchmacht, abgrenzt, entsprechend gibt es Sinn, dass westliche Fans, die vom Westen ermüdet in die andere Pop-Szene flüchten, entsetzt auf diese Umschwünge reagieren.
Aber die Trends kommen nur natürlich und die Songs geben ihnen recht. Allein der Titeltrack "Super Shy", ein ebenso schlanker Song wie alle anderen hier, der kaum über die zwei Minuten ragt, hat so viel Persönlichkeit und Flavour, so viele perfekt balancierte Songwriting-Elemente, die langsamen Triplets im ersten Part, die sich langsam aufbauenden Vocal-Layers, aber all das fällt nicht auf; denn all die kleinen, weniger sichtbaren Kniffe ordnen sich diesem unglaublichen Groove unter, der sich so stringent und unaufhaltsam durch die Laufzeit zieht, das man sich fühlt, als hätte man gerade nur drei Varianten der selben geilen Hook gehört, da ist der Song schon vorbei.
"Get Up" ist ein radikaler Einschnitt in das Metagame des K-Pops, aber zeugt von einer beeindruckenden Vision und einem respektablen Vertrauen in das eigene Konzept. Die Produktion und das Sound Design gehören derzeit zu den besten der Welt, die Vocals fügen sich perfekt unterschwellig ein. Und ganz am Ende: Für ein so groovendes, tanzbares Tape, hat "Get Up" einfach unglaublich viel Stimmung. "New Jeans", "Super Shy", "ETA", "ASAP", all diese Songs balancieren die Club-Beats mit überraschend melancholischen, tagträumerischen Vocals aus. Wenn man so will, könnte man das im Laufe des Projekts eindimensional finden. Aber NewJeans haben gerade einen absolut goldenen Sound, den sie gut und gerne noch sehr lange genau so exerzieren dürften.
1 Kommentar mit 2 Antworten
Kann ich so unterschreiben: Extrem gut produzierte, extrem trendige, extrem TikTok-taugliche, extrem seelenlose Musik.
Mir tun koreanische Künstler und Künstlerinnen leid, die wirklich was eigenes machen wollen, und in diesem von vorne bis hinten durchgeplanten Geschäft sicher komplett untergehen.
Wie wäre es, wenn uns mal ein paar von denen vorgestellt werden, so zur Abwechslung?
"Mir tun koreanische Künstler und Künstlerinnen leid, die wirklich was eigenes machen wollen, und in diesem von vorne bis hinten durchgeplanten Geschäft sicher komplett untergehen".
Südkorea hat natürlich auch seine Indie-/Auteur-/wieauchimmer-Szene, wobei ich nicht enschätzen kann, wie groß die im Vergleich mit anderen Ländern ist. Nur schaffen deren Künstler es hierzulande selten zu irgendeiner Bekanntheit.
In dem Sinne kann ich deine Vorderung im letzten Satz mur ausdrücklich begrüßen und halte das tatsächlich für eine verpasste Gelegenheit.
"Wie wäre es, wenn uns mal ein paar von denen vorgestellt werden, so zur Abwechslung?"
Abder weißt schon dass es K-*POP* heißt, oder?