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Platz 1: Disintegration (1989)

Auflösung, "Disintegration". Es ist die Grundstimmung dieses Opus Magnum der Band und auch das Gefühl, das die politische Welt im Jahre 1989 prägt. Wir befinden uns am Vorabend zum Ende des Kalten Krieges und des Zusammenbruchs des Ostblocks in Europa. Doch der Titel des achten Cure-Studioalbums wurde nicht in hellsichtiger Voraussicht der kommenden Ereignisse gewählt. Es geht um eine persönliche, interne Sicht der Auflösung. Dazu passt, dass die enge Bande, die Songwriter Robert Smith seit den 70er Jahren mit Jugendfreund Lol Tolhurst verbindet, kurz nach Fertigstellung des Albums reißt. Zudem sieht er seinem 30. Geburtstag entgegen, eine juvenile Horrorvorstellung, die ihn noch einmal in eine Sinnkrise stürzt. Zumal er im privaten Umfeld mit seiner auf mittlerweile 17 Neffen und Nichten angewachsenen Großfamilie konfrontiert wird.

Aber was für ein glorioser Soundtrack zum emotionalen Untergang. Gleich der Opener "Plainsong" setzt ein hohe Gütesiegel und nimmt die ganze Klasse dieses Albums vorweg. Ein Sequel zu "Sinking" von 1985, wenn man so will, angereichert mit Glockenspiel, schiebenden Keyboards und Smiths von Raum und Zeit völlig losgelöster Gitarre. Ein Song, der als Instrumental schon zu 110 Prozent Sinn gemacht hätte, die Arrangements so dicht wie Tolhurst zum Zeitpunkt der Aufnahme, aber dann kommt doch noch Gesang: "I think it's dark and it looks like it's rain, you said / And the wind is blowing like it's the end of the world, you said." Spielverderber, wer hier nicht sterben wollte.

Das elegische "Pictures Of You", ein himmlisch vorgetragenes Wehklagen des Zurückgelassenen mit fantastischem Gallup-Bass, und kurz danach das Happy End: "Lovesong". Die Liebeserklärung von Smith an seine Ehefrau Mary: "However far away / I will always love you / However long I stay / I will always love you / Whatever words I say / I will always love you / I will always love you." Ausgehend von einem Demo Gallups entwickelt die Band gemeinsam diesen eingängigen Song, der "Disintegration" spürbar aufhellt und zur Überraschung aller Beteiligten in den Charts sogar noch größeren Eindruck hinterlässt als - genau: "Lullaby". Diese seltsame Geschichte, in der Smith von einer Spinne erzählt, die ihm immer näher auf den Pelz rückt. Man darf wohl ohne empirische Belege behaupten, dass der schräge, refrainlose Trauermarsch ohne den eindrücklichen Videoclip niemals zum Klassiker erwachsen wäre.

Ein Album ohne Makel. Aus all der Elegie ragt das bedrohlich pulsierende "Fascination Street" heraus. Aggressiv baut es sich über über Gallups schrammenden Bass zwei Minuten lang auf, bis sich Smith erbarmt, doch noch ein paar Zeilen zu singen. Und wie. Wütend wettert er gegen die ihm entgegengebrachte Verehrung, die zeitweise schon bizarre Formen angenommen hatte: "Because I feel it all fading and paling and I'm begging to drag you down with me to kick the last nail in." Mit knapp zehn Minuten ist "The Same Deep Water As You" der längste Track des zähen Album-Finishs.

Voll mit allen Stilmitteln, die erklärte Gegner der Band gerne ins Feld ziehen: Heulsusen-Gejammer, endlos Hall auf der Stimme, träge Akkordfolgen, wieder kein Refrain, nur zehn Minuten Weltschmerz, vollendet mit eingespielten Regengüssen und Donnergrollen. Und immer das Ende vor Augen: "The very last thing before I go / the very last thing before I go / the very last thing before I go." Abtreten? Im Jahr 1989? Nix da! Wobei Smith das zum damaligen Zeitpunkt natürlich anders sah: "Wir machen das jetzt schon so lange", stöhnte der Prince Of Sadness damals. Drei Jahrzehnte später ist sein Lebenswerk längst in Stein gemeißelt und hätte die Welt ohne "Disintegration"-Nachfolger um einige goldene Momente ärmer gemacht.

Anspieltipps - von den Welthits abgesehen:

"Fascination Street", "Disintegration", "The Same Deep Water As You", "Prayers For Rain"

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