laut.de-Kritik
So herkömmlich und zweckdienlich wie ein VW-Golf.
Review von Toni HennigIn den letzten rund 15 Jahren führte der Trompeter Nils Wülker ein Pop-Publikum zunehmend an den Jazz heran. Seit "Up" (2015), das sich drei Wochen in den Top 100 der deutschen Albumcharts festsetzen konnte, prägen vermehrt Hip Hop- und Elektronik-Elemente seine Musik. Nun veröffentlicht der 41-jährige mit "Decade Live" seine erste Liveplatte.
Sie umfasst Material aus insgesamt fünf Studioalben, das er an drei verschiedenen Abenden in den letzten zwei Jahren aufzeichnen ließ. Weiterhin schwört er auf dem Werk auf sein altbekanntes Line-Up, das aus Gitarrist Arne Jansen, Bassist Edward Maclean, Pianist und Keyboarder Maik Schott, Schlagzeuger Simon Gattringer und Sänger Rob Summerland besteht. Dazu verstärken Drummer Felix Lehrmann und Keyboarder Jan Miserre das Live-Team.
Musikalisch lässt Wülker auf der Scheibe die prägnanten Beats, die seine letzten beiden Platten durchziehen, zugunsten seines melodischen Trompeten-Spiels ohne Schnörkel außen vor. Seine kompositorische Jazz-Herangehensweise mutet im Grunde genommen äußerst konservativ an.
Den Beginn des Werkes bilden fünf Stücke seiner aktuellen Studioplatte "On" (2017). "Conquering The Useless" leitet "Decade Live" mit hymnischen Blechbläser-, verhaltenen Gitarren- und lyrischen Klavier-Klängen ruhig ein. Harmonisch wirken der Trompeter und seine Band hervorragend aufeinander abgestimmt. Professionalität hört man der Scheibe jederzeit an.
"You Cannot Imagine" und "Wanderlust" haben darüber hinaus mit prägnanten Funk-Anleihen rhythmisch durchaus Einiges zu bieten. Dennoch spult Wülker in den beiden Tracks strikt das saubere und wohlklingende Jazz-Einmaleins ab. Bis auf ein wenig gefälliges Piano-Geklimper hier und seichtes Gitarren-Gedudel dort haben die restlichen Mitmusiker auf der Bühne den Nummern kaum eigene solistische Akzente hinzuzufügen. Nur nicht all zu viele Experimente wagen.
Immerhin lockert "Grow" mit der souligen Stimme von Rob Summerland das Werk stilistisch ein wenig auf. Demgegenüber erweist sich die aufbäumende, euphorische Struktur des Songs als berechenbar. Zum Glück bringt Wülker in "Pull Of The Unknown" mehr Emotionen ins Spiel. Außerdem bewegt sich Jansen mit einem gelungenen Solo am Ende des Tracks aus seiner gemütlichen Komfortzone heraus.
Für ein gutes Jazz-Album fehlt es "Decade Live" trotzdem an Spontanität. So gut wie alles klingt von vorne bis hinten kalkuliert und durchstrukturiert. Wohlfühl-Musik für Max Mustermann und Lieschen Müller, die nicht weh tut und so harmlos wie die Schalker Offensive momentan erscheint. Kreativität lässt sich auf der Scheibe demnach als Mangelware bezeichnen.
So hangelt sich das Werk im weiteren Verlauf von einer Belanglosigkeit zur nächsten. "Dawn", der Opener von "Up", kreuzt die Melodie-Verliebtheit von Miles Davis' "Kind Of Blue" mit substanzlosen Pop-Harmonien. In "Today's Gravity", ursprünglich von "Just Here Just Now" (2010), stehen loungige Easy Listening-Klänge im Vordergrund, die Helge Schneider weitaus verspielter und humorvoller darbietet.
Obendrein bleibt, wenn der Zuschauer-Applaus nach kurzer Zeit der Schere zum Opfer fällt, vom Zauber eines Jazz-Konzertes nicht mehr viel übrig. Darum geht es Wülker aber ohnehin kaum, wie er in einem Interview betont: "Für mich war es gar nicht so ausschlaggebend zu sagen, 'Ich möchte jetzt möglichst viel Live-Atmosphäre, also möglichst viel Publikums-Atmosphäre einfangen', sondern für mich war das Wichtigste, einzufangen, was da musikalisch geschieht." Anscheinend nicht viel.
In "Safely Falling", ein Live-Favorit vom gleichnamigen Album von 2007, passiert hingegen doch etwas, womit man als Hörer überhaupt nicht mehr gerechnet hat. Gegen Mitte zieht das Klavier nach und nach die Spannung an, bis der Song in eine rockige und gitarrenbetonte Phase übergeht, die tatsächlich das Werk auf erfrischende Art und Weise belebt. Mit einem kraftvollen Solo rundet Wülker die Nummer überzeugend ab. Allmählich lässt sich so etwas wie eine gewisse Live-Dynamik erkennen, wofür es allerdings nach etwa fünfzig unbefriedigenden Minuten schon längst zu spät ist.
So zeugen die restlichen Stücke auf dem Album nicht unbedingt von der Kompromisslosigkeit und der Abenteuerlust des Trompeters. Trotz allem glänzt er im gefühlvollen "Season", dem wohl melancholischsten Track auf "Up", mit seinen leidenschaftlichen Einschüben, während sich Rob Summerland am Mikro von seiner verletzlichen Seite präsentiert. Ebenso vermittelt das funkige "Circles" einen unverbrauchteren Eindruck als in der Studiovariante auf "On".
Zum Schluss wartet die Platte mit "Stripped", im Original auf "My Game" von 2005 enthalten, mit zurückhaltenden Tönen auf. Die sparsame Schlagzeug-Begleitung und die sphärische Gitarren-Arbeit Marke Eivind Aarset unterstreichen die intime Stimmung des Songs, der viel Raum für die sehnsüchtigen Soli Nils Wülkers lässt. Endlich verlässt er sich für ungefähr sieben Minuten ausschließlich auf seine Intuition. Seele besitzt der Großteil von "Decade Live" nämlich nicht. Wäre das Album ein Auto, es wäre ein VW Golf. Zweckdienlich, herkömmlich und erwartbar. So sollte Jazz letztlich aber nicht sein.
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