laut.de-Kritik

Die (fast) vergessene Stimme der Bürgerrechtsbewegung.

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Stolz und kämpferisch erhebt sie den Kopf, das Kinn trotzig vorgeschoben. Es sei eine gewaltige Welt, kündigt der Titel ihres vielleicht besten Albums an, und Odetta Holmes ist fest entschlossen, den ihr zustehenden Platz darin zu behaupten.

So unerschrocken, wie sie sich auf dem Cover präsentiert, klingt auch die Stimme der Frau, die ein ganzes Jahrzehnt politisch wie musikalisch prägte und mitgestaltete und die heute dennoch fast in Vergessenheit geraten ist. Die geballte politische Unzufriedenheit und Verärgerung der traditionellen Blues- und Folkweisen bündelt sich in Odettas Gesang: "Die Texte und die Musik fingen die ganze Wut und Frustration auf, mit der ich aufgewachsen bin."

Im Jahr zuvor hat sie zusammen mit Martin Luther King, der sie zur "Königin der amerikanischen Folkmusik" adelt, am Marsch auf Washington teilgenommen, dem Höhepunkt der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Vor den über 200.000 Menschen spielt an diesem Tag neben Odetta, Joan Baez oder Mahalia Jackson auch ein schmächtiger junger Mann mit nasaler Stimme, der nach eigener Aussage erst durch Odettas Songs überhaupt zur Folkmusik gekommen ist.

Man muss nur wenige Sekunden in "It's A Mighty World" hineinhören, um zu verstehen, was Dylan Anfang der Sechziger Jahre so beeindruckte, dass er beschloss, die elektrische gegen eine akustische Gitarre und Elvis' Rock'n'Roll gegen den Protestsong zu tauschen. Odettas Stimme klingt tief, unerschütterlich und ist von einer derart unaufhaltsamen Dringlichkeit, dass sie die Hörer*innen auch über fünfzig Jahre später noch durch Mark und Bein geht.

Wäre es nach ihrer Mutter gegangen, hätte Odetta diese lieber auf einer Opernbühne eingesetzt. Früh erhält die Tochter klassischen Gesangsunterricht. Es ist nicht vermessen, zu sagen, dass Odetta wohl auch an der 'Met' eine hervorragende Figur abgegeben hätte. Aber die Tochter ist nun einmal den alten Folksongs und den Geschichten dahinter verfallen und hält dabei besonders die zutiefst menschlichen Werte in den Liedern hoch: "Die Schule hat mir beigebracht, wie man rechnet und wie man einen korrekten Satz bildet. Aber alles, das die menschliche Seele betrifft, habe ich durch die Folkmusik gelernt."

Der Titelsong liefert eines der seltenen Beispiele, bei dem sich die Musikerin selbst als Komponistin versucht. Sonst orientiert sie sich an traditionellen Liedern und Folksongs anderer Musiker*innen, die sie allerdings nicht einfach nur adaptiert, sondern sich komplett aneeignet. Wenn Odetta singt, dann interpretiert sie nicht, dann verkörpert sie eine Geschichte. Es beeindruckt, wie die Sängerin auch vermeintlich banale Melodien mit Leben füllt. "Reminiscing" etwa orientiert sich an zwei beliebten Kinderliedern, aber bei Odetta sind diese von einer solch melancholischen Schwermut erfüllt, dass sie eine fast existentielle Bedeutung bekommen.

Auf dem Album unterstützen sie Bassist Raphael Grinage und Gitarrist Bruce Langhorne, der im selben Jahr auch auf Dylans "Mr Tambourine Man" und weiteren Songs von dessen bahnbrechendem Album "Bringing It All Back Home" zu hören ist. Das Zusammenspiel des Trios bildet die zurückgehalten treibende Basis für Odettas Zeugnisse von Leid, Hoffnung und Frustration.

Bei allen Krisen und aller durchscheinender Melancholie durchziehen das Album jedoch ein unerschütterlicher Optimismus und ein tiefes Vertrauen, dass am Ende die großen humanistischen Werte erreicht werden. Nicht gerade zufällig endet das Album mit der Freiheitshymne "Got My Mind On Freedom".

So zentral Odettas Stimme für die Bürgerrechtsbewegung auch war, in der Erinnerung ein halbes Jahrhundert später, wird sie von anderen – weißen – Musikern überlagert. Wie so viele schwarze Blues- und Folksängerinnen, droht auch die einst so leidenschaftlich gegen die Unterdrückung ansingende Odetta heimlich, still und leise aus dem Kanon zu verschwinden. Ein Schicksal, das sie mit zu vielen zu ihrer Zeit populären Kolleginnen teilt: Big Mama Thornton, Koko Taylor, Memphis Minnie, Big Maybelle oder Sister Rosetta Tharpe lauten nur einige ihrer Namen.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. It's A Mighty World
  2. 2. I've Been Told
  3. 3. Reminiscing
  4. 4. Hush Hush Mamie
  5. 5. Camphorated Oil
  6. 6. Bull Jine Run
  7. 7. Come A Lady's Dream
  8. 8. Sweet Potatoes
  9. 9. Chevrolet
  10. 10. Love Proved False
  11. 11. One Man's Hands
  12. 12. Got My Mind On Freedom

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