laut.de-Kritik
Eine Vergessene der 90er lebt ihre Liebe zu vielerlei Musik aus.
Review von Philipp KauseDass Paula Cole grüne Augen hat, dürfte hierzulande den meisten verborgen geblieben sein. Außer man hat in den '90ern schon das Video zu "Where Have All The Cowboys Gone?" gesehen. Mit dem dezent grunge'ig-dissonanten und lodernden Song "Green Eyes Crying" meldete sich die Klavier-Singer/Songwriterin, inzwischen mit grauen Strähnen, Anfang des Jahres ganz unscheinbar zurück, kündigte nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit ein Album an: "Lo". Was immer "Lo" heißen mag.
Dass selbst von Paulas YouTube-Abonnenten nur etwa ein Zehntel dieses schöne Werk zwei Monate nach Release gestreamt haben, macht es zu einem Geheimtipp. Schon lange veröffentlicht die Multiinstrumentalistin von der Halbinsel Cape Ann vor Massachussetts auf eigene Faust, nachdem sie bei einem Indie-Label ihr Debüt und dann im Major-Vertrieb von Warner und danach bei Universal (in der Jazz-Sparte) je zwei CDs gemacht hatte.
Für mich war Paula Cole immer die Storytellerin mit den besten Drama-Songs. Sie profilierte sich als rockige US-Songwriterin, die ohne Folk und fast ohne Country ihre literarischen Geschichten erzählen konnte: Zusammen mit Cat Power und Fiona Apple eine echte Alternative in den 90ern! Und sie war diejenige am Klavier, die anders als Tori Amos und Sarah McLachlan nicht zerbrechlich, sondern massiv und solide klang. Jetzt führt sie wieder durch ihre großartigen Stücke, nachdem die Kids und Stief-Kids aus dem Haus sind und Paula, wie sie im American Songwriter-Magazin sagt, ihre Flügel wieder spreizen kann.
In "Golden Apples Of The Sun/Fahrenheit 451" spielt sie zur filigran arrangierten Musik auf das Verbrennen von Büchern an, das ab 451 Grad Fahrenheit (233 Grad Celsius) passieren kann. Ab diesem Punkt entzündet sich Papier, und danach ist auch der Internet-Fehlercode 451 ("Inhalt zensiert") seit einigen Jahren benannt. Bücherverbrennung steht sinnbildlich als Akt von Diktaturen für das Undemokratische, das Ende der Meinungsfreiheit. Paula liebte schon früher solche sozialkritischen Kommentare. In diesem Lied bekundet sie wie ein Mantra "we will remember / we will remember": Das Zerstören der gedruckten Werke löscht die Erinnerung an sie nicht aus.
Noch einmal Papier liegt im "Letter From A Quarry Miner" vor, dem Brief eines Steinmetzes in einem Steinbruch aus dem Jahr 1932. Erst wanderte er aus Skandinavien ein, um im Mittleren Westen der USA sein Glück zu suchen. Dann verliert er in der Rezession seinen Job und kann nicht mal seinen Kindern Klamotten kaufen. Der Brief geht raus an die Mama in Europa. Cole performt, teils summend, "Worte der Weisheit" in einem trockenen Steve Earle-artigen Sound mit Staubschicht und Percussion, die aus dem Getrommel einer Gewerkschafts-Demo stammen könnte.
Ein überwältigendes Manifest donnert in sechseinhalb Minuten "Wildflower". Die Wildblume am Wegesrand ist eine lebenserfahrene Frau, die mit dem "foolish" Verhalten jüngerer Männer wenig anfangen kann, die eher noch als "boys" durchgehen. Wohl autobiographisch, der Produkttext spricht von den "neuesten Polaroid-Schnappschüssen aus Coles Leben". In ihrer Sehnsucht nach wahren "gentlemen" - bei diesem Wort wird sie plötzlich laut und angreiferisch wie eine fauchende Katze und ein knurrender Hund in einem - lässt sie sich doch verführen. Der nächste Gefühlsausbruch über die "fuckin' minds" bricht endgültig die stoisch startende Klavierballade und metamorphosiert sie in ein Alternative Rock-Epos voller Krach und Spannung.
Irgendwann erstickt die Stimme im Wort "wild" und wird ganz weit weg gesogen in die Verstärker. Wie auch immer das produziert sein mag, es ist toll, mischt einen Schuss Industrial ins Storytelling und passt zur Wandlung von formschön glatt in knirschend kaputt. Ob "The Replacements & Dinosaur Jr" Pate standen?
Im entsprechenden Song nimmt sie von Mark, einem jung verstorbenen Freund und Tontechniker Abschied, der ihr musikalische Universen von Beatles bis 80er-Indierock erschloss. "Mark ließ meinen Kopf explodieren", erinnert sich Paula. Sie bedauert, jetzt keine Musik mehr mit ihm teilen zu können. Musik, die sie genial findet und die sie ihm immer noch zeigen will, acht Jahre nach seinem Tod. Der Song führt vor, wie wichtig es ist, Platten nicht nur privat für sich selbst zu hören, sondern sie anderen weiter zu empfehlen und sich mit Freaks darüber auszutauschen, deren Musikgeschmack man bereits gut kennt - ein besonderes Vertrauensverhältnis. Das Stück bedient sich dazu eines angejazzten Gewands und etlicher Querverweise zu John Lennons Art zu komponieren.
"Es war buchstäblich so, dass ich die Beatles zuerst mit Mark hörte", ergänzt die Sängerin. Außerdem "A Tribe Called Quest, The Pixies, und eine Menge bezaubernder Alternative-Sachen der frühen 90er, die die Leute mit mir nicht in Verbindung bringen würden. Wir fanden eine Connection in unserer Liebe für Peter Gabriels Musik. Ich trauerte um Mark, verehrte und feierte ihn, als ich dieses Lied schrieb. Ich wollte seinen überdauernden Einfluss auf mein Leben anerkennen. Mark hätte eine enorme Karriere verdient gehabt. Ich bin ihm so dankbar. Den Song aufzunehmen machte Spaß, so wie es mit ihm immer war."
Ähnliches könnte ich über Paula Cole sagen. Sie hätte eine enorme Karriere verdient gehabt, immer schon. Sie zeigte mir die Welt des Singer/Songwriter-Genres wie kaum jemand anderes, und neben Paul Simon und Edie Brickell war sie diejenige, die meine Liebe zu dieser Art Musik am nachhaltigsten entflammte. Ihre alten Platten bereiten viel Freude, ich bin ihr dankbar und es ist spitze, dass sie jetzt mit einer so rundum gelungenen Scheibe wieder aufkreuzt, dass man gar nicht anders kann als vor Begeisterung zu strahlen. Zum Beispiel, wenn ein so perfekter Pop-Song wie "Calling All Saviors" erklingt.
Soulful und luftig konnte die geerdet polternde feurige Cole früher schon komponieren und performen, man denke an "Feelin' Love", einen groovenden Album-Cut von 1996 auf "This Fire". "Take It Take It Take It" tritt als tickender, spartanischer und hypnotischer Electrosoul in die Mitwipp-tauglichen Fußstapfen jenes Klassikers, mit einem Hauch Howe Gelb-Wüstenrock verschnörkelt und geheimnisvoll inszeniert.
Hinzu kommt das Ausdrucksvermögen der Amerikanerin. "Paula hat eine einzigartige Stimme, sowohl in dem, was sie sagt, als auch, wie sie es sagt", würdigt der verehrte Peter Gabriel zurück. Sein Statement macht darauf aufmerksam, dass die Beobachtungsgabe und Denkweise Coles eng damit verwoben sind, wie engagiert sie Betonungen setzt, mit wie viel Thrill sie singt. Gabriel engagierte Paula Cole Anfang der 90er als Background-Sängerin und zum Beispiel als Ersatz für Kate Bush im Duett "Don't Give Up".
Wie sehr die Multiinstrumentalistin (Klarinette, Akustikgitarre, Fender Rhodes) ein Ohr für hochwertige Arrangements hat und brillant nutzt, während sie an ihrem Hauptinstrument Piano mit weichem Nachdruck klimpert, demonstriert schon der atmosphärische Opener "Follow The Moon" hervorragend.
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