laut.de-Kritik

Der perfekte Soundtrack für Attentäter und selbstherrliche Politiker.

Review von

Peter Gabriel – verschrobener Engländer, mutiger Menschenrechtsaktivist, Videokünstler und eines der facettenreichsten Musikgenies unserer Tage. Alles was der Mann anfasst, gerät ihm scheinbar nebenher popkulturell monumental und philosophisch erhaben. Viele schwören indes auf seine Genesis-Phase; zum Meilenstein taugten auch das längst geschächtete Broadwaylamm oder die brillante Pop-LP "So" samt "Sledgehammer".

Mit dem dritten unbetitelten Gabriel-Album von 1980 mit dem zerfließenden Antlitz, im Volksmund gern auch "Melt" genannt oder "III", begann jedoch vieles, was Gabriel seither ausmacht. Es ist eine Scheibe, die noch unbeleckt blieb von den späterhin extrem opulenten Worldmusic-Arrangements und den kompatibleren vergleichsweise nahezu kommerziellen Sounds. In der damals extra neu eingespielten deutschen Variante heißt sie: "Ein Deutsches Album".

Der schwarze Kontinent ist erstmals in Zeile und Ton vertreten. Und das nicht zu knapp. Doch die typisch ausgelassene Lebensfreude, die sonst rhythmische Unbekümmertheit dieser Musikkultur, fehlt hier gänzlich. Wer eine ekstatisch flirrende Afrika-Party erwartet, täuscht sich gewaltig.

In der Morgendämmerung des Postpunk schlängelt sich eine bisweilen bleierne Kälte als roter Faden durch alle Lieder. Gabriels Leben ist damals von schweren Depressionen gekennzeichnet. (Erst bei "So" hört man die lindernde Entdeckung von Prozac heraus.) Diese auszehrende Trostlosigkeit umhüllt die Platte nahezu in jeder einzelnen Sekunde. Unterbrochen von typischen Aggressionsschüben und Panikattacken, die er hörbar zerquält musikalisch rockend einfließen lässt.

Gleichwohl kann man sich dem hypnotischen Sog der Rille jederzeit aussetzen, ohne runtergezogen zu werden. Der melodisch vielfältige Einfallsreichtum ist im Vergleich zu allen früheren und späteren Werken enorm. Die Texte kann man – und das ist bei solch extremem Gesang selten - entweder als emotional und intellektuell perfekte Veranschaulichung genießen. Oder einfach als begleitendes Instrument wahrnehmen.

Mit seiner speziell gedehnten, einzigartigen Phrasierung macht er es Genießern wie Analytikern gleichermaßen recht. Man muss lange suchen, um eine Nadel im CD-Haufen zu finden, die solch eine Quadratur des Kreises überhaupt vollbringt. Geschweige denn so elegant. Aus diesem Grund für mich auch der absolute Geilenstein unter den vielen Meisterwerken von Edelproduzent Steve Lillywhite (u.a. Beady Eye, Morrissey, U2, Smiths, Furs).

Seltsam bedrohlich wie eine unheilvolle Erscheinung im Treppenhaus nagelt sich das Drummer-Animal Phil Collins in Hammer und Amboss unserer Ohrmuscheln. Der afrikanische Frauenchor daneben klingt ungefähr so entspannt wie eine Horde Hühnchen, denen man gerade den Hals umdreht. "Ich fühl die Angst und den Atem, der stockt und dann fragt, was da war… sonderbar!" Einbrecher, Geist oder Panikattacke? Was für eine Allegorie!

Der von seiner zerbrechenden Ehe ebenso gebeutelte neue Genesis-Frontman Collins tüftelt dankbar mit. Ihr gemeinsamer Lohn: Die Erfindung diverser Effekte und last but not least des weltberühmten Gated Reverb Drumsounds, den Collins nur wenige Monate später mit "In The Air Tonight" im musikalischen Kollektivgedächtnis unseres Planeten verankern wird. Eine gewaltig hallende, beckenlos aufgetürmte Wall of Drum, die schockartig stirbt, wie eine erstickende Flamme. Die kreative dunkle Gemeinheit, mit der der späterhin eher verwirrte Mr. Mainstream hier wuchtet, bedeutet künstlerisch – trotz aller Genesis- und Soloerfolge – sicherlich den künstlerischen Zenith seiner oft belächelten Karriere. Allein für diese vier Songs, die er hier zelebriert, wird der sympathische Phil stets einen Platz in meinem Herzen haben.

"Und Durch Den Draht" glänzt mit flockiger Paul Weller-Gitarre. Der Jam-Kopf verpasst Gabriels Psychoshow ein aufgerauhtes Peeling. Danach wird alles wieder wesentlich schlimmer. Die Gefühlsachterbahn rutscht in neurotische Untiefen und rockt dabei fett ab.

"Keine Selbstkontrolle"! Unstet reibende Störgeräusche des Wahnsinns paaren sich sofort mit dem Möwen-artigen Hintergrundgeschrei von Alltime Friend Kate Bush. "Nachts immer so nervös ... Hinter jedem Stuhl steckt ein Schweigen, das lebt/Es kommt hervor, wenn der Nebel sich hebt/ Es frisst alles - ALARM!" Der Rocksong selbst bleibt trotz aller Ausweglosigkeit erfrischend und absolut tanzbar. Er funktioniert sogar im Sommer.

Nach einem großartig unterkühlten Saxophonsolo verfällt der Mann aus Surrey hernach in einen regelrechten Veitstanz. Dabei so eingängig: Hysterie goes AOR. Die Stimme überschlägt sich. Die Augen weit aufgerissen. "Leergeätzt, vorm Kopf ein Brett/Frag mich nicht immer und noch einmal/Leer ist mein Kopf/Trostlos der Fall" deklamiert er zu Robert Fripps prägnanten Guitar-Licks. Dreimal gehört, wird man den tanzteuflischen Refrain tagelang nicht los. Ein großartig anfixender Ohrwurm. Zehnmal intensiver als "Sledgehammer". Unbedingt anchecken.

In seiner lyrisch zweideutigen Raffinesse mit exquisitem Spannungsbogen samt angedeuteter Terrassendynamik ist der "Schnappschuß" vielleicht PGs atmosphärischster Track überhaupt. Der weltweit erste und bis dato einzig perfekte Soundtrack für Heckenschützen, Attentäter und selbstherrliche Politiker. Gabriels blank liegende Nerven ermöglichen ihm einen Stephen King ähnlichen, morbiden Sog auf literarischem Niveau. "Drei Straßen noch/Du hörst im Radio, was dieser Mann alles kann/Einen Schuss brenn' ich euch in den Kopf/Leer ausgeträumt und krank/Du bist nicht zum hassen/ Eigentlich ganz egal/Wir brauchen uns beide; perfekte Wahl". Man kann es nicht besser machen.

Die popkulturellen Höhepunkte und Hits in den Augen der Welt sind indes zwei ganz andere Lieder. "Spiel Ohne Grenzen" und "Biko". Ersterer ein perkussives Gleichnis. Der ultimativ sarkastische Antikriegssong anhand der Beobachtung eines pfadfinderisch pfeifenden Kinderspiels mit Kate Bush als tragender Säule. Die rohe Unbeholfenheit, mit der Gabriel die deutschen Brocken ausspuckt, geraten deutlich zorneserfüllter und direkter als das vergleichsweise lahme englische Pendant "Games Without Frontiers". " Adolf zündet Bücher an, Enrico macht auch mit/ Piss auf die Fratzen im Dschungel/Wir ziehen uns Kostüme an und spielen ganz verrückt/ Ich versteck' mich hoch im Baum/ Ihr seid abgefickt!"

Zum Ende der Platte sein definitiv wichtigster Song. Das ebenso anrührende wie entsetzliche Requiem für den südafrikanischen Freiheitskämpfer Steve Biko, der vom Apartheidregime zu Tode gefoltert wurde. Die Gitarre klingt schicksalhaft und besiegelt den ausweglosen Tod ungerührt. Fellmonster Collins kocht seine Hammerschläge zum unerbittlich dengelnden Metronom ein. Das Wehklagen der afrikanischen Frauen ist authentischer Totengesang im Xhosa-Dialekt.

Gabriel lässt derweil alle Trauer und unbändige Wut heraus. "Yehla Maja, Yehla Maja! Komm über uns Geist; denn er ist tot. Er ist tot!" Zum Ende vereinen sich alle Musiker spirituell mit dem nun befreiten Geist des Helden. Unfassbar, dass Peter Gabriel damit sogar ein positiv versöhnlicher Ausklang der Hoffnung gelingt. Das Lied samt seinem Schöpfer gibt in den 80ern die Visitenkarte für eine Protestbewegung, die schlussendlich in Mandelas Freilassung und den Zusammenbruch des Regimes münden wird.

Dies ist vielleicht nicht die nach gängigen Motiven schönste Platte des großen Exzentrikers. Die pointierteste, direkteste und innovativste ist sie allemal. Auf die Frage eines Journalisten nach der wichtigsten Aussage der LP antwortete der damals erst 30-Jährige zeitlos aktuell: "Krieg muss man schwänzen. Spiel ohne Grenzen!".

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Eindringling
  2. 2. Keine Selbstkontrolle
  3. 3. Frag Mich Nicht Immer
  4. 4. Schnappschuss (Ein Familienfoto)
  5. 5. Und Durch Den Draht
  6. 6. Spiel Ohne Grenzen
  7. 7. Du Bist Nicht Wie Wir
  8. 8. Ein Normales Leben
  9. 9. Biko

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LAUT.DE-PORTRÄT Peter Gabriel

Peter Brian Gabriel wird am 13. Februar 1950 in Cobham, Großbritannien geboren. Bereits im Alter von elf Jahren beginnt er, erste Songs zu schreiben.

40 Kommentare

  • Vor 12 Jahren

    Das soll ein Meilenstein sein? Wer hat das denn ausgewürfelt? Das ist doof und kacke.

  • Vor 12 Jahren

    Bei Peter Gabriel ist es auch schwer einen Meilenstein zu wählen. (Mein Favorit wäre "UP" von 2003). Dieses Album geht auch in Ordnung, aber die namenlose englische Originalversion (von den Fans "Scratch" oder "3" genannt) hätte besser gepasst als die "eingedeutschte" Fassung, die eher in den Bereich "Schräges Kurioses" fällt.

  • Vor 12 Jahren

    Hmm, ich kenne nur das englische Original. Funktioniert eine solche Platte denn überhaupt auf Deutsch? Die Texte klingen ja teilweise so, als wären sie 1 zu 1 aus dem Englischen übersetzt. Ich hoffe mal der gute Peter befand sich anno 1980 trotz des Themas nicht auf einer ausweglosen Sprachsafari, denn sowas kann oft auch unfreiwillig komisch sein...

  • Vor 12 Jahren

    Die "deutsche" Gabriel-Phase kann gar nicht genug hervorgehoben werden, beweist sie doch, wie die deutsche Sprache tatsächlich auch kunstvoll eingesetzt werden kann.

  • Vor 10 Jahren

    Für mich tatsächlich ein Meilenstein. Hatte die Platte damals auf MC. irgendwann war die MC dann weg, aber die Songs geisterten weiter in meinem Kopf, in meinem Ästhetik-Gedächnis herum...schwer zu sagen warum, aber diese Platte habe ich heute im second hand als LP gesehen, gekauft und bin wieder verzaubert. Ich habe die englischen Versionen der songs erst kennengelernt, als ich mkich bereits in die deutschen verliebt hatte. Für mich waren und sind die deutschen Versinen die orginale und ich sehe das als Privileg :)

  • Vor einem Jahr

    Wenn Peter Gabriel aktuell der meistgeklickte Künstler mit „P“ ist, dürfte das daran liegen, dass einige gestern Mittag die guten alten TV-Kanäle eingeschaltet haben und bei 3sat hängengeblieben sind. Das Konzert in Athen war zwar von 1987, aber weil ich insbesondere „Games Without Frontiers“ echt gut fand, habe ich dann mal in dieses frühere „deutsche“ Album reingehört.
    Muss schon sagen, die eckige Aussprache von Gabriel passt ganz gut zu den sperrigen, kühlen Songs, aber so richtig anfreunden kann ich mich mit dem Ding nicht, vermutlich auch nicht in der englischen Originalfassung. Versuch‘s demnächst mal mit „So“, könnte mir vorstellen, dass mir das eher liegt.
    Ein frohes neues Jahr an alle, die dies lesen! :)